EM-Tagebuch Wo Frankreich und Deutschland eins werden

In der Eckkneipe "Le Salon" wird der europäische Gedanke gelebt. Wirt Jean bietet deutsches Bier und Würstchen an - vor allem aber hat er keine Schranken im Kopf. Ob er seine ungeborene Tochter deshalb wirklich "'ildegard" nennen muss, steht auf einem anderen Blatt.

 RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

Foto: Phil Ninh

In Evian gibt es noch, was am hochzivilisierten Niederrhein längst ausgestorben scheint: die Eckkneipe, in der sich allerlei nette Menschen nach der Arbeit treffen und in der sie nicht selten bis lange nach der Arbeit bleiben. In der es außer gepflegten Getränken nur ein paar Kleinigkeiten zu essen gibt, die sich noch nicht der Event-Gastronomie zurechnet und die auch nicht "Lounge Soundso" heißt.

Meine heißt seit zwei Wochen "Le Salon", und ich verdanke ihre Entdeckung dem freundlichen Tipp des überhaupt sehr freundlichen Kollegen Z. aus einem großen Dorf an der Düssel. Für den Salon steige ich gern die paar hundert Höhenmeter von meinem Berg in die Niederungen von Evian hinab. Ich muss allerdings zugeben, dass ich sie nicht mit der gleichen inneren Freude wieder hinaufsteige.

Die Zeit dazwischen gefällt mir ohnehin besser.

Zum Inventar der Kneipe gehören ein paar Schwarz-Weiß-Fotos aus alten Louis-de-Funès-Filmen an den Wänden und ein Surfbrett in der Ecke, vor der Tür stehen Stehtische in der Fußgängerzone. Dort leben die Raucher und, wenn es mal nicht regnet, auch andere Menschen. Der Wirt heißt Johan, ist halber Italiener und singt deswegen die italienische Nationalhymne mit. Er hat sich für die EM einen Beamer und eine große Leinwand besorgt, die den Raum hinterm Tresen prima ausfüllt.

Würstchen und deutsches Bier auf Vorrat

Weil La Mannschaft den Ort zu ihrem Quartier machte, hat Johan Würstchen in großer Zahl und einige Fässer deutsches Bier auf Vorrat gekauft. In Anbetracht der Tatsache, dass die doch überschaubare Menge deutscher EM-Teilnehmer in Evian im Allgemeinen und in Johans Salon im Besonderen mit dem Verzehr völlig überfordert wäre, beteiligt sich die einheimische Bevölkerung großzügig und sehr rege an der Verkleinerung des Vorrats.

Jean zum Beispiel. Er kommt aus dem Elsass, ist aber inzwischen echter Evianese (keine Ahnung, ob das so heißt). Er kehrt nach der Arbeit gern mal ein, begrüßt den Kollegen Z. und mich bereits per Handschlag, und er hat sich gerade über deutsches Bier, Elsässer Gewürztraminer und einen Weißwein, der seinen Kopf in leichte Schüttelbewegungen bringt, in eine sehr ausgelassene Feierabendlaune getrunken.

Er ist des Deutschen viel mächtiger als wir Banausen des Französischen - das heißt: Sein Deutsch hat mehr zu bieten als Merci und Au revoir. Deshalb erklärt er uns, dass seine Frau ihr erstes Kind erwartet. Er weiß schon, dass es ein Mädchen wird. Darauf freut er sich offenbar sehr. So sehr, dass er in Erinnerung an seine Elsässer Heimat und deren Nähe zu Deutschland auch schon den richtigen Namen ausgesucht hat: Hildegard. Begeistert ruft er "'ildegard, 'ildegard, 'ildegard!" und strahlt dabei, dass man den ganzen Genfersee beleuchten könnte. Die Frau eines Theken-Bekannten - übrigens ebenfalls aus dem Elsass, hier gibt es wahrscheinlich einen Elsässer Heimatverein - kann die Begeisterung nicht völlig teilen. Ihr Kommentar: "'ildegard, mon dieu!"

Das kann Jean nicht bremsen. Er erzählt inzwischen der ganzen Kneipe von seiner "Grandmère". Sie sei ziemlich klein gewesen, Jean hält die Hand irgendwo in Brusthöhe, aber sonst eine echte Riesin. Sie hätte "'ildegard" auf jeden Fall richtig gefunden. Brüllendes Gelächter, Strahlen, ein Schluck Wein.

Dann wird er leise. Die Oma sei im Krieg nach Deutschland deportiert worden und habe dort im Haus eines hohen Militärs gelebt. Zu dessen Kindern habe sie in den Kriegsjahren eine enge Beziehung aufgebaut. So eng, dass sie später jedes Jahr Besuch von ihnen bekam und Patin eines weiteren Nachkommen wurde. Jean denkt nach. "Der Krieg ist vorbei, und wir sind eins", ruft er. Ich muss tatsächlich kurz mal schlucken.

Zum Glück kommt jetzt seine Frau. Sie lächelt weise über weitere "'ildegard"-Sprechchöre. Sie kennt ihren Jean wohl am besten. Er weiß, wie sein Leben weitergeht. Denn er kräht unterdessen: "Ich muss nach Hause fahren." Auf Deutsch. Klar. Wir sind ja eins.

In der Nacht träume ich, dass ich auf dem Balkon die Marseillaise gesungen habe - fehlerfrei. Und mir fällt ein, dass meine angeheiratete Großmutter mit Mädchennamen Leclair hieß. Das kann doch alles kein Zufall sein.

(RP)
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