EM-Kolumne Warum Scholls Taktik-Kritik dreist ist

Düsseldorf · Bundestrainer Joachim Löw passt zum Viertelfinale gegen Italien seine Taktik an den Gegner an, lässt mit Dreierkette agieren. ARD-Experte Mehmet Scholl nimmt das zum Anlass, DFB-Chefscout Urs Siegenthaler abzuwatschen. Eine verpasste Chance.

Taktik-Kritik von Mehmet Scholl nach Italien-Spiel: Darum ist sie dreist
Foto: dpa, mjh hak skm hpl

Mehmet Scholl hat es schon wieder getan. Nach dem Elfmeter-Drama gegen Italien schoss sich der ARD-Experte auf die deutsche Taktik ein: Die Umstellung auf die Dreierkette sei ein Fehler gewesen, sagte Scholl. DFB-Chefscout Urs Siegenthaler griff Scholl frontal an: "Der Herr Siegenthaler möge bitte seinen Job machen, morgens liegen bleiben und die anderen zum Training gehen lassen." Hätte Deutschland sein bisheriges System weiterverfolgt, so Scholls Logik, das Spiel gegen Italien wäre anders ausgegangen. Ein Spiel mit Viererkette wäre tatsächlich anders ausgegangen - aber nicht unbedingt zugunsten der deutschen Mannschaft.

Scholl unterschlug in seiner Betrachtung die Argumente, die Löw zu seiner Umstellung bewegten. Löw selbst begründete es nach dem Spiel ganz sachlich: "Die Italiener spielen mit zwei Mann auf den Seiten und mit zwei zentralen Stürmern. Vier gegen vier zu spielen, ist gegen sie gefährlich. . . Deswegen mussten wir das Zentrum zumachen."

Löw bezog sich mit seiner Aussage auf das italienische 5-3-2-System. Stützpfeiler des Systems sind die beiden Stürmer. Die Italiener spielen aus der Abwehr meist direkt auf die Angreifer, die Bälle halten und weiterleiten sollen. Oftmals lässt sich ein Angreifer ins Mittelfeld fallen, der zweite Angreifer startet in die Spitze. Verteidigt eine Mannschaft mit einer Viererkette, agieren zwei Innenverteidiger gegen die zwei Stürmer. Das italienische Kalkül ist es, einen gegnerischen Verteidiger aus der Abwehr zu ziehen, sodass der zweite Stürmer dynamisch die Spitze besetzt.

Die Stärke der Italiener ist, dass beide Stürmer beide Rollen übernehmen können. Es ist also schwer, mit zwei Innenverteidigern einen gegnerischen Stürmer zu fixieren. Mit drei Innenverteidigern hat man jedoch eine Überzahl im Zentrum. Man kann also mit einem Innenverteidiger aus der Abwehr rücken, ohne die Schnittstelle zu öffnen.

Der zweite Teil von Löws Aussage bezog sich auf die italienischen Außenverteidiger. Wenn diese gegen eine Viererkette weit vorrücken, entsteht eine Vier-gegen-Vier-Situation: die beiden Stürmer sowie die beiden Außenverteidiger gegen die gegnerische Viererkette. Löw reagierte auf dieses Problem, indem er die eigenen Außenverteidiger weit vorschob. Joshua Kimmich und Jonas Hector agierten praktisch als Außenstürmer. Damit drückten sie die gegnerischen Außenverteidiger nach hinten. Die Dreierkette sicherte dabei die Vorstöße der Außenverteidiger ab.

Deutschlands Dreierkette neutralisierte also die beiden Stärken der italienischen Offensive: weder der Doppelsturm noch die Außenverteidiger konnten offensiv Akzente setzen. Indem Löw seine Taktik anpasste, setzte er die italienische Offensive schachmatt. Belgiens Coach Marc Wilmots und Spaniens Trainer Vicente del Bosque hatten darauf verzichtet, ihre Taktik anzupassen - und gingen gegen Italien baden.

Scholl hat mit seiner Kritik insofern Recht, als dass die Umstellung klar auf Kosten der Offensive ging. Deutschland vermied mit der eigenen Taktik jegliches Risiko. Das ist aber auch wenig verwunderlich, wenn man gegen den vielleicht stärksten EM-Teilnehmer antritt. Zumal Scholl mit keiner Silbe darauf einging, dass Löw sein System nach der Pause in weiten Teilen umstellte. Vor der Pause war die Mittelfeldanordnung ein großes Problem: Bastian Schweinsteiger und Mesut Özil ließen sich zu weit nach außen drängen, Deutschland kam dadurch selten in die Räume im Mittelfeld.

Nach der Pause tauschten Schweinsteiger und Özil die Seiten, agierten zentraler. Dadurch konnten Benedikt Höwedes und Mats Hummels weiter vorrücken. Deutschland kam nun besser in die Mittelfeldräume. Es dominierte das Spiel nun in der gegnerischen Hälfte und hatte auch abseits des Tors durch Özil (65.) große Chancen. Das unterschlug Scholl, auch wenn der Vorwurf, Deutschland hätten offensiv die Automatismen gefehlt, durchaus zutreffend war.

Dennoch ist Scholls Kritik in mehrerer Hinsicht dreist. Sie war dreist gegenüber Scout Siegenthaler, weil er dessen gesamtes Berufsbild abstempelt. Dabei setzen alle Fußballnationen Scouts ein, um dem Trainer die bestmöglichen Informationen bezüglich der Taktik des Gegners zukommen zu lassen. Sie war dreist gegenüber Löw - als hätte dieser nicht selbst die Vorteile einer Dreierkette gesehen, sondern sich von seinen Kollegen eine Variante aufschwatzen lassen, die er selbst gar nicht wollte.

Nicht zuletzt war die Kritik dreist gegenüber dem Zuschauer. Es gab Argumente für Löws Position, die bisherigen Automatismen nicht aufzubrechen, aber ebenso gab es gute Argumente für die Dreierkette. Anstatt dass die ARD beide Varianten erläutert, stellte sie Scholls Kritik auf ein Fundament.

Gastautor Tobias Escher (28) ist Taktik-Experte. Er betreibt die Internetseite spielverlagerung.de, auf der er Spielzüge im Profifußball erklärt.

(RP)
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