Erzählungen aus einem Albtraum So brutal ist das Leben als HSV-Fan

Hamburg · Der Traditionsklub bereitet dem HSV-Fan Meyel Löning seit Jahren fast nur Kummer. Eine beschwingliche Reise durch einen Albtraum.

Bundesliga-Relegation: HSV-Fans fiebern beim Public Viewing in Hamburg
13 Bilder

HSV-Fans fiebern beim Public Viewing in Hamburg

13 Bilder

"Jetzt wird alles gut, so eine Saison mach ich nie wieder mit. Und der HSV auch nicht." (Meyel Löning nach der Relegation zu seiner Freundin, 18. Mai 2014)

1. Juni 2015, Relegationsrückspiel, Karlsruher SC gegen Hamburger SV, 1:0, 91. Minute: Ein letzter Freistoß noch. 17 Meter. Der muss rein. Gemeinsam mit 15.000 HSV-Fans kauere ich im Volksparkstadion vor einer riesigen LED-Leinwand, raufe mir die Haare und stammle irgendwelche Stoßgebete. Ein Jahr nach einem etwas forschen Versprechen weiß ich: Nichts ist gut!

Erste Teenager weinen, ältere Ehepaare rücken traurig zusammen. Abstiegsvordepression beim Bundesliga-Dino. Nie habe ich mich als Fan miserabler gefühlt. Auf meinem Smartphone laufen erste gehässige Abgesänge ein. "Ich will nicht absteigen", sage ich zu meinem Kumpel Till, als in Karlsruhe Marcelo Diaz seinem Freistoß-Kompagnon Rafael van der Vaart auf dessen Ansage "Ich schieße" antwortet: "Ja! Morgen, Kumpel, morgen kannst du schießen." Und dann läuft Diaz an.

"Immer Erste Liga, HSV!" So singen es die Fans seit Ewigkeiten. Doch in diesem Frühjahr wankt der Mythos — mal wieder. Wir würden nicht einfach nur absteigen wie jeder andere Bundesligist. Fast jedes Fan-Lied müsste neu geschrieben werden; außerdem das Dino- Maskottchen und auch unser aller Stolz, die Uhr, eingeschläfert werden.

Die Unabsteigbarkeit ist das einzige Kapital, das selbst der blindeste HSV-Macher nicht verscherbeln kann. Nach fast 30 titellosen Jahren ist sie unser letzter Trumpf am Fußball-Stammtisch. Dabei sollte alles besser werden. Neuer Vorstand, neue Spieler, neuer Trainer. Doch es wird sogar schlimmer:

Bis Ende April schießt der HSV genau 16 Tore, Frankfurts Alex Meier im gleichen Zeitraum 19. Selbst Kommentatoren bieten nicht mehr altklug Lösungsszenarien an, sondern fragen einfach nur: "War's das für den HSV? Oder gibt der Fußball-Gott noch einen aus?" Nach dem 0:3 gegen Wolfsburg am 28. Spieltag glaube ich das erste Mal an den Abstieg. Dann kommt Bruno Labbadia.

Als ich die Nachricht lese, kriege ich Gänsehaut vor lauter naiver Hoffnung. Das dürfte alles sagen über die mentale Konstitution eines HSV-Anhängers in schweren Zeiten. Aber genau dafür liebe ich den HSV: Der Mann, der erst kürzlich noch übereifrig aus der Stadt gejagt wurde, wird plötzlich als Erlöser vorgestellt. Und dann fährt die Mannschaft auch noch nach Malente! Nach Malente! Im 21. Jahrhundert! Was für ein dinoesker Kitsch! Es ist der Moment, in dem ein ganzer Verein noch einmal zusammenrückt. Absteigen? Niemals! Neben dem Mythos verbietet das vor allem das Selbstbild.

Wie kein anderer Verein steht der HSV für Misswirtschaft und Größenwahn. Hanse-Hollywood. Die Fallhöhe ist so hoch wie nirgendwo sonst. Gerade deshalb will Fußball-Deutschland diesen HSV auch fallen sehen. Aber ist dieser Klub wirklich so verachtenswert? Für mich ist es das Allerschönste, dass der Zustand und die Entwicklungen beim HSV so zuverlässig auf der faszinierendsten und so liebenswerten Eigenart des menschlichen Geistes beruhen — auf Dummheit. Das macht ihn so menschlich und verwundbar.

Für diesen uneinsichtigen Patienten möchte ich da sein — bis zum bitteren Ende. Doch zum bitteren Ende kommt es nicht. Nach brutalen Wochen des Zitterns verwandelt Marcelo Diaz das Abstiegshospiz Volksparkstadion in der allerletzten Minute der Saison in ein Tollhaus des Glücks — 1:1. Wenig später rettet Nicolai Müller den HSV endgültig. Ob der Freistoß einer war? Dazu schweige ich wie ein wahrer Champion — und denke mir im Stillen: Jeder kriegt das Saisonfinale, das er verdient. Und wir Fans haben uns diesen Ausgang verdient.

Als uns Mario Götze zum WM-Titel schoss, ging für mich auf der Berliner Fanmeile ein Traum in Erfüllung. Diaz‘ Schuss ins Glück aber holte uns HSV-Anhänger aus einem Alptraum. Das war intensiver. Wer aus einem Alptraum erwacht, möchte in genau dem Moment mit niemandem tauschen. Keine Ahnung, wie es sich anfühlt, mit dem HSV einen Vereinstitel zu gewinnen. Aber als Fan war ich noch nie so glücklich wie in dem Moment, als der Fußball-Gott doch noch einen ausgab.

Wird jetzt alles gut? Die Voraussetzungen könnten besser sein. Wir haben (richtigerweise) ein paar Spieler mit dem gewohnten Echo medienwirksam verschenkt, den großen #HW4 alias Heiko Westermann verabschiedet, bislang kaum Zugänge verpflichtet, und unser einziges Talent will unbedingt nach Leverkusen. Es wird wieder schwer, keine Frage. Aber ich freue mich drauf.

Gemeinsam die Klasse halten — für den Mythos und gegen den Widerstand einer Fußball-Nation: Das ist eine HSV-Epoche, von der ich durchaus meinen Enkeln erzählen werde. Wenn der Verein das auch so sieht, käme vielleicht etwas Ruhe rein. Und mit ihr neuer Erfolg. Von der These "Ein Jahr in der Zweiten Liga würde dem HSV guttun" halte ich nichts. Das haben sie bei 1860 und in Kaiserslautern auch gesagt. Scheint nicht die beste Idee zu sein, dieses Absteigen.

Es klingt zwar etwas pathetisch, aber ich glaube, wenn der Verein seinen Mythos erst mal los wäre, wäre der Weg zur grauen Fahrstuhlmannschaft nicht mehr weit. Vielleicht kommt es aber ja auch alles ganz anders. Vielleicht wird die Relegation rückblickend ja — wie bei Borussia Mönchengladbach — doch zur inoffiziellen Frischzellenschockkur für strukturell verkaterte Liga- Giganten. Dafür brauchen wir einen guten Start. Am 1. Spieltag geht's zum FC Bayern, wo der HSV zuletzt 2:9 und 0:8 verloren hat. Na ja. Meiner Freundin habe ich zumindest erzählt, dass wir da was holen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort