Chile zu Gast in Russland Erinnerungen an das absurdeste Spiel der Fußballgeschichte

Vor fast 44 Jahren fand eines der absurdesten Spiele der Fußballgeschichte statt. Die Elf der UdSSR boykottierte nach dem Militärputsch die Partie in Santiago. Dennoch mussten die Gastgeber auf den Rasen. Jetzt treffen die Chilenen in Moskau auf Russland.

 Die chilenische Nationalmannschaft nimmt am 21. November 1973 im Nationalstadion von Santiago de Chile Aufstellung zum Rückspiel um das WM-Ticket gegen die Sowjetunion. Die Gäste reisten allerdings erst gar nicht an.

Die chilenische Nationalmannschaft nimmt am 21. November 1973 im Nationalstadion von Santiago de Chile Aufstellung zum Rückspiel um das WM-Ticket gegen die Sowjetunion. Die Gäste reisten allerdings erst gar nicht an.

Foto: dpa, hrad hpl

Es war ein absurdes Schau-Spiel und hatte ernste politische Töne: 1973 boykottierte die Elf der Sowjetunion das Rückspiel für die WM-Qualifikation in Chile. Kurz zuvor hatte sich dort das Militär an die Macht geputscht. Doch die Nationalmannschaft musste auf Geheiß des Weltverbandes Fifa antreten. Mit einem Schuss ins leere Tor zum 1:0 qualifizierten sich die Gastgeber für die Fußball-WM 1974 in Deutschland. Fast 44 Jahre nach diesem Skandalspiel und mehr als 25 Jahre nach der Auflösung der UdSSR treffen Russland und Chile an diesem Freitag erstmals aufeinander.

Der Südamerika-Meister und die russische Elf wollen sich mit einem Freundschaftsspiel auf den Confederations Cup vorbereiten, der am 17. Juni in Russland beginnt. Doch so mancher dürfte sich auch an die Ereignisse von 1973 erinnern — sie gelten als eines der dunkelsten Kapitel des Fußballs.

Begonnen hatten die Differenzen zwischen beiden Mannschaften mit dem Hinspiel am 26. September 1973 in Moskau. Zwei Wochen zuvor hatte das Militär in Chile die Macht an sich gerissen und den von Moskau unterstützten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt, der Selbstmord beging. Die erste Partie endete torlos.

"Als wir am Flughafen von Moskau ankamen, ließen sie uns nicht einreisen, auch nicht meinen Kameraden Elías Figueroa", erinnert sich einer der chilenischen Spieler, der heute 66-jährige Carlos Caszely, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Figueroa, ein herausragender Mittelverteidiger und oft verglichen mit Franz Beckenbauer, wurde beinahe das Foto im Reisepass zum Verhängnis: Auf diesem hatte er kurze Haare, er trug sie aber lang. Und Caszely sollte draußen bleiben, weil er keinen Schnurrbart trug. Schließlich schalteten sich chilenische Offizielle ein — das Problem war gelöst.

Das Unentschieden gegen die sowjetische Nationalelf im Moskauer Lenin-Stadion gab in Chile Anlass zur Hoffnung. Das Land stand am Anfang einer seiner traumatischsten Epochen, die Militärdiktatur von Augusto Pinochet sollte fast 17 Jahre dauern.

"Wir holten ein Unentschieden, das sehr gut war, um sich auf das Rückspiel einzustellen", erinnert sich Caszely. Dieses sollte am 21. November 1973 stattfinden. Der Fußballspieler war unter der Diktatur ein bekannter Oppositioneller; seine Mutter war nach dem Putsch festgenommen und unter Druck gesetzt worden.

Für das Rückspiel reiste die Elf der UdSSR wegen der Ereignisse in dem südamerikanischen Land dann aber gar nicht an. Das Nationalstadion in der chilenischen Hauptstadt wurde zu jener Zeit als Inhaftierungs- und Folterlager für Allende-Anhänger missbraucht.

Trotz all dieser Vorfälle ordnete die Fifa unter ihrem damaligen Präsidenten Sir Stanley Rous an, dass die chilenische Elf antreten müsse. Für dieses wohl absurdeste Spiel der Fußballgeschichte räumte das Militär kurz zuvor das Stadion, die politischen Gefangenen wurden in andere Gefängnisse gebracht.

Chiles makabre Fahrkarte zur WM 1974

Um die Vorgaben der Fifa zu erfüllen, mussten die elf chilenischen Spieler in Sportbekleidung auf dem Spielfeld erscheinen. Anschließend pfiff der Schiedsrichter das Geisterspiel ohne Zuschauer an. Vier Chilenen bewegten sich auf das leere gegnerische Tor zu. Kapitän Francisco Valdés durfte das makabre Tor zum 1:0-"Sieg" schießen, das Chile die Fahrkarte zur WM 1974 sicherte.

"Das war das Skurrilste, was ich im Fußball jemals erlebt habe", erinnert sich Caszely, einer der beliebtesten Spieler der Elf. "Das war absurdes Theater." Sein Ruhm steigerte sich noch, als sich herumsprach, dass der Stürmer der Einzige war, der sich nicht von Pinochet verabschiedete, als die Elf — der Tradition vor wichtigen Spielen folgend — dem Staatsoberhaupt einen Besuch abstattete.

"Wir hatten einen Halbkreis gebildet, und Pinochet reichte jedem von uns die Hand", erzählt Caszely. "Doch ich hatte meine Hände hinter dem Rücken und ließ sie auch dort. Ich rührte mich nicht. Das machte ich, weil ich glaubte, die Mehrheit meiner Landsleute zu repräsentieren, die Diktaturen ablehnten". Caszely bekennt, dass er Angst hatte.

(dpa)
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