WM-Qualifikation Stürmer-Biotop Nationalmannschaft

Baku/Düsseldorf · Gestern Miroslav Klose, heute André Schürrle, Mario Gomez und Thomas Müller: Bei Bundestrainer Joachim Löw finden Spieler aus dem Formtief.

WM-Qualifikation: Aserbaidschan - Deutschland: Einzelkritik
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Aserbaidschan - Deutschland: Einzelkritik

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Foto: dpa, mb hak

Joachim Löw muss ein gutes Gedächtnis haben. Es reicht auf jeden Fall bis zum 13. Juli 2014 zurück, bis zu jenem Abend von Rio de Janeiro, der auch die Karriere des Bundestrainers endgültig vergoldete. Vor Augen hat er diese Szene: André Schürrle treibt den Ball in der Verlängerung über den linken Flügel, er flankt, und in der Mitte verwandelt Mario Götze das Zuspiel in einer einzigen fließenden Bewegung zum 1:0 im WM-Finale gegen Argentinien. Niemand wird das so schnell vergessen.

Löws Erinnerungen reichen aber noch viel weiter. Spieler, die ihm ihre Tauglichkeit bewiesen haben, bleiben in seinem Gedächtnis. Er pflegt den Kontakt zu ihnen, und er hält auch in schwierigen Situationen zu ihnen. Sie zahlen es mit Leistung zurück. Vorerst letztes Beispiel: André Schürrle, inzwischen im Verein Borussia Dortmund weit entfernt vom weltmeisterlichen Glanz, nach eher grauen Karriere-Etappen bei Chelsea und in Wolfsburg nur noch ein Mann für die kleineren Aufgaben. Ein Ergänzungsspieler, wie das die Trainer beschönigend nennen, wenn einer lediglich noch von der Bank kommt, wenn es beim Platzhirsch gerade mal nicht läuft.

Beim WM-Qualifikationsspiel in Aserbaidschan (4:1) hat Löw zur Überraschung vieler Schürrle in die Startelf gestellt. Das war keine schlechte Idee, denn der Stürmer schoss zwei Tore, den Treffer von Thomas Müller bereitete er vor. Nur am 3:1 von Mario Gomez war er nicht direkt beteiligt. Nach allgemeiner Einschätzung war Schürrle Mann des Tages. Und er selbst stellte fest: "Das tut extrem gut."

Der Dortmunder profitiert vom Biotop Nationalmannschaft. Löw hat in seinen bald elf Jahren als Cheftrainer ein Wohlfühlklima für seine Auserwählten geschaffen, von dem gerade die etwas haben, deren Laufbahn im Verein ein wenig ins Ruckeln geraten ist. Schürrles Vorstellung von Baku ist nur ein Beleg dafür, wie wirkungsam Löws Wellnessoase Formkrisen bekämpft. Der Bundestrainer holte auch schon Lukas Podolski aus der Sinnkrise, als der bei Bayern einzig im Trainingsalltag mal in der ersten Mannschaft stand. Ein ähnlich garstiges Schicksal musste Miroslav Klose ebenfalls erleiden. Aber auch er fand in der Nationalmannschaft wieder in die Spur. Ebenso wie Götze, zu dem Löw stand, während ganze Expertenrunden über vermeintliche Ernährungsprobleme schwafelten. Bevor Thomas Müller so richtig von der ersten Sinnkrise seines Fußballerlebens ereilt werden konnte, weil ihm zu Beginn dieser Saison im Klub einfach keine Tore mehr gelingen wollten, schoss er sich im frühen Herbst 2016 durch gleich vier Tore bei den Länderspielen in Norwegen (3:0) und gegen Tschechien (3:0) alle möglichen Anflüge von Nachdenklichkeit vom Leib. Sogar Mario Gomez, dessen Wucht für Löw eine Zeit lang entbehrlich schien, trifft regelmäßig, seit er wieder für Deutschland auf den Rasen darf. Ein schöner Zufall wollte es, dass Schürrle, Müller und Gomez sich die Treffer in Aserbaidschan aufteilten.

Das wiederum zeigt, warum Löw so manchem Stürmer "öffentlich das Vertrauen schenkt", wie Schürrle es so nett ausdrückte. Der Bundestrainer ist nämlich nicht nur ein Menschenfreund und begabter Pädagoge. Er braucht auch Stürmer, die verwerten, was seine Kringeldreher im Strafraum an Chancen heranschaffen - "kreieren", wie das im Trainer-Neudeutsch heißt.

Löw hat das in all den Jahren vorübergehend mal verdrängen wollen, als ihm der spanische Ansatz des Kombinationsfußballs, bis der Gegner ermattet aufgibt, als die Lösung aller Schwierigkeiten des Weltsports erschien. Spätestens beim WM-Turnier ist ihm aber die Schönheit des knappen Siegs durch Stürmertore aufgegangen. Und er hat natürlich zugleich erkannt, dass ein Auftrag an alle Fußball-Akademien im Land darin bestehen muss, die bedrohte Art des Mittelstürmers vor dem Aussterben zu schützen. Löw weiß inzwischen, wie wichtig diese Jungs sind.

Grobe Klötze sind ihm dennoch ein Gräuel. "Ich will schon auch den schönen Fußball", hat er immer wieder gesagt. Es ist eines seiner Mantras. Zu einem reinen Ergebnis-Taktiker wird dieser Bundestrainer nie. Den schönen Dingen, zu denen die spielerische Lösung auf dem Rasen gehört, wird er immer den Vorzug vor kraftprotzender Bolzerei geben. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass Athleten der Kategorie Sandro Wagner von der TSG Hoffenheim über längere Zeit seine fachliche Zuneigung erfahren werden. Da lädt er doch lieber wieder Gomez ins DFB-Biotop. Der ist schließlich erst 31. Der Kollege Klose machte sein letztes Länderspiel mit 36.

(pet)
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