Darmstadt 98 feiert Aufstieg Der längste Bart ist erstklassig

Darmstadt · Marco "Toni" Sailer schafft mit Darmstadt 98 den Bundesliga-Aufstieg.

Fotos: SV Darmstadt 98 lässt sich nach dem Bundesliga-Aufstieg feiern
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Darmstadt feiert blau-weißes Wunder

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Wenn eines Tages mal wieder das Leben des legendären russischen Wunderheilers Rasputin (1869 bis 1916) verfilmt wird, dann sollte sich Marco Sailer für die Titelrolle bewerben. Den passenden Bart hat er schon. Bis auf die Brust reicht die Haarpracht, gelegentlich bremst sie ein wenig beim Sprinten. Schnell genug ist der Spieler trotzdem.

Diesen Teams gelang der Durchmarsch in die Bundesliga
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Foto: ap

Der längste Bart des deutschen Profifußballs ist nun erstklassig. Und er ist nicht die einzige Bestmarke, die Darmstadt 98 setzt. Den Hessen gelang der Durchmarsch von der dritten in die erste Liga, seit dem wie immer voller Leidenschaft erkämpften 1:0-Erfolg über den FC St. Pauli am letzten Punktspieltag der Saison ist das Team nach Ingolstadt der zweite Aufsteiger in die Bundesliga. Und Sailer, den sie alle nach der Ski-Legende Toni nennen, war selbstverständlich eine der Hauptpersonen bei den Feierlichkeiten im Stadion am Böllenfalltor. Mit dem unvermeidlichen Dreiliter-Weißbierglas dirigierte er den Chor der Anhänger vom Tribünendach. Das Trikot hatte er längst in die Menge geworfen.

Darmstadt schreibt ein Fußball-Märchen. Es beginnt vor fast genau zwei Jahren. 98 schafft im letzten Saisonspiel der dritten Liga nur ein 1:1 gegen die Stuttgarter Kickers. Der Abstieg in die vierte Liga ist damit besiegelt, und es fließen Tränen im Stadion am Böllenfalltor, das in einer anderen Fußballzeit, Ende der 70er Jahre, schon mal eine Saison Kulisse für Erstligasport war.

SV Darmstadt 98 feiert Bundesliga-Aufstieg
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Die Darmstädter Tränen trocknen, als bei einem anderen Traditionsklub die Lichter ausgehen. Kickers Offenbach bekommt keine Lizenz, 98 darf in der Liga bleiben. Es folgt ein Triumphzug, den niemand erwarten konnte. Der Fast-Absteiger kämpft sich bis in die Aufstiegsspiele gegen Arminia Bielefeld. Er verliert die erste Begegnung mit 1:3, aber er gewinnt in einem Drama mit Toren und Pfostenschüssen in der Nachspielzeit 4:2 in Bielefeld und kehrt nach 21 Jahren in die zweite Liga zurück.

Dort wird der Klub aus Südhessen mit dem maroden Stadion und einem Saisonetat von nicht einmal sechs Millionen Euro (ein Fünftel der Summe, die der andere Neuling RB Leipzig ausgeben kann) von den Experten als Abstiegskandidat gewettet. Darmstadt belehrt die Fachwelt, überrascht sich vielleicht sogar selbst. Denn 98 startet richtig durch. Es lebt von vergleichsweise altertümlichen Tugenden, Zusammenhalt, Kampfstärke, Hingabe und Laufbereitschaft. Die Mannschaft zaubert keine fußballerischen Delikatessen auf den strapazierten Rasen ihres gut 90 Jahre alten Stadions. Aber sie ist ein Gegner, mit dem sich die bessergestellten Konkurrenten schwer tun. "Es ist schwierig für andere Mannschaften, uns den Ball abzunehmen", sagt Sailer dem "Focus", "mit 95 Prozent Einsatz holst du gegen uns nichts."

Das sind keine leeren Behauptungen, sie werden von den erstaunten Mitbewerbern regelmäßig bestätigt. Hinter dem erfolgreichen System steckt Trainer Dirk Schuster (47). Es ist bestimmt kein Zufall, dass der gebürtige Chemnitzer zu aktiven Zeiten selbst kein Vertreter der Fraktion Feingeist und Außenristpass war. Schuster war ein Arbeitstier in der Abwehr, einer, der auch noch 20 Meter vor dem gegnerischen Tor im Tiefflug zur Grätsche ansetzte. Aber auch einer, den die Fans wegen seiner Geradlinigkeit und seiner Einsatzbereitschaft mochten. Beim Karlsruher SC und beim 1. FC Köln brachte er es auf 200 Bundesligaspiele, sieben Mal spielte er sogar für Deutschland an der Seite von Jürgen Klinsmann und anderen Größen.

Im Liga-Alltag machte er ihnen das Leben schwer, weil er sie mit nie erlahmendem Kampfgeist bearbeitete. "Aufgeben gibt's für mich nicht", erklärt er. Und diese Mentalität hat er seiner Mannschaft vermittelt. Sie ackert, wenn andere längst abgeschaltet haben. Sie geht gemeinsam weite Wege. Und sie trainiert, was trainierbar ist. Standardsituationen zum Beispiel. 40 Prozent ihrer Tore hat die Schuster-Elf nach Eckbällen oder Freistößen erzielt, nur Ingolstadt war da ein bisschen besser. Beide werden nächstes Jahr gegen Bayern München, Borussia Dortmund und den VfL Wolfsburg spielen.

Ingolstadt tut es durch tätige Mithilfe des Großsponsors Audi, Darmstadt bleibt sich treu. Die Hessen werden kaum mehr Geld als Paderborn zur Verfügung haben, das mit 15 Millionen Euro durch die erste und vorläufig letzte Bundesliga-Saison ging. Auch der Miniatur-Etat bestärkt Schuster in der Feststellung: "Wir haben in der Bundesliga nichts zu suchen." Sein Team ist nach Paderborn der nächste Vertreter, der sich um den Titel krassester Außenseiter der Bundesliga-Geschichte bewirbt.

Doch das kennen die Darmstädter ja schon. Sie sind die vergangenen Spielzeiten stets mit diesem Etikett bedacht worden. Das gefällt ihnen. Und sie werden auch in der Eliteklasse "genau den Fußball anbieten, den man von uns erwartet", wie Toni Sailer verspricht. Angenehm für die Gegner wird das nicht. So viel ist sicher.

(RP)
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