Bayer Leverkusen Holger Broich: "Besser aufgehoben als bei den Bayern"

Leverkusen · Holger Broich, Fitness-Experte von Bayer 04, spricht über die Kunst einer guten Saisonvorbereitung, Felix Magaths "Hügel der Leiden" in Wolfsburg, die eigene Resistenz gegen Verlockungen wie Eis oder Schokolade und seine Gedanken zum Angebot der Münchner in der Vorsaison.

 Holger Broich macht die Bayer-Profis fit.

Holger Broich macht die Bayer-Profis fit.

Foto: Uwe Miserius

Herr Broich, jeder, der regelmäßig bei den Trainingseinheiten von Bayer 04 zuschaut, stellt sich irgendwann zwangsläufig die Frage: Hat der Mann nicht auch selbst Luft für 90 Minuten Bundesliga?

Holger Broich Es ist natürlich wichtig, dass ich das, was ich von den Spielern verlange, auch dementsprechend vorleben kann. Auch bei mir ist der Körper mein größtes Kapital, und da lege ich auch viel Wert drauf. Aber die biologische Uhr tickt, ich werde immer älter und die Spieler von Jahr zu Jahr irgendwie immer jünger (lacht). Bislang kann ich aber noch gut mithalten.

Beim Cooper-Test [Welche Laufstrecke schafft eine Testperson in zwölf Minuten?, Anm. d. Red.] mit dem Kader würden Sie also im vorderen Drittel landen?

Broich Naja, den Cooper-Test würde ich ja gar nicht erst empfehlen, weil er nicht so valide [aussagekräftig, Anm. d. Red.] ist, was die Diagnostik angeht. Aber grundsätzlich, was solche Sachen betrifft, würde ich da noch ganz gut abschneiden, denke ich.

Müssen Sie Jürgen Klinsmann dankbar sein, dass er den Fitness-Aspekt im Fußball vor der WM 2006 stärker in den Fokus gerückt hat?

Broich Die Wertschätzung für uns Athletiktrainer ist dadurch natürlich enorm gestiegen. Das, was damals praktiziert wurde, war inhaltlich eigentlich nichts Neues, aber so, wie es nach außen hin verkauft wurde, war es sehr gut. Heute sind in der Bundesliga zwei Athletiktrainer pro Verein ja fast schon Standard.

Und diese Athletiktrainer sind vollwertige Mitglieder eines Trainerstabs und gelten nicht mehr als Freaks wie früher.

Broich Ich bin jetzt zehn Jahre in Leverkusen. Natürlich wurde man am Anfang ein bisschen belächelt. Man kam von der Sporthochschule, wurde abgestempelt als Theoretiker. Das hat sich über die Jahre enorm verändert. Die Spezialisten drängen immer mehr in den Fußball hinein — was auch gut ist. Die physiologischen Anforderungen an den Fußballprofi sind ja auch immens gestiegen in den vergangenen 10, 15 Jahren.

Vor 10, 15 Jahren gab es noch Trainingsmethoden, die grenzen aus heutiger Sicht an Körperverletzung.

Broich (lacht) Die mag es gegeben haben. Aber lassen Sie uns beim heutigen Fußball und seinen Anforderungen bleiben. Der Fußballer läuft an sich zehn bis zwölf Kilometer — je nach Position. Wir haben in diesen 90 Minuten alle 90 Sekunden eine Sprint-Aktion über zwei bis vier Sekunden, also 20 bis 40 Meter. Die Spieler bewegen sich durchschnittlich bei einer Herzfrequenz von 160 und im Bereich von 75 bis 80 Prozent der maximalen Sauerstoffaufnahme. Fußball ist eine hauptsächlich aerobe Spielsportart mit intermittierenden anaeroben laktaziden und alaktaziden Energieschüben. An diesen Parametern orientieren wir das Training. Es gibt zwei Stellschrauben: Umfang und Intensität. Das hochintensive Training findet dabei immer mehr Verwendung in der Trainingssteuerung.

Die langen Läufe werden also immer weniger?

Broich Früher gingen sie über 60, teilweise 90 Minuten. Das macht man heute in der Regel gar nicht mehr. Anstatt Spieler vier mal vier Minuten bei einer Intensität von 95 Prozent zyklisch laufen zu lassen. spielen wir heute unter anderem vier mal vier Minuten in speziellen Formen, kommen so auch auf 95, 97 Prozent, aber die Spieler merken die Belastung nicht so, weil wir eben sportartspezifisch trainieren. Spielformen auf dem Kleinfeld sind ideale Trainingsformen zur Verbesserung der Wettkampfleistung.

Ist dies eine der großen Herausforderungen Ihres Jobs, Übungen, die früher ohne Ball durchgeführt wurden, heute spielnah umzusetzen?

Broich Das Feedback der Spieler ist natürlich besser, wenn wir mit Ball trainieren, das ist klar. Es ist zudem auch eine Frage des Zeitmanagements. Für uns ist es doch viel besser, wenn wir einen Großteil der Einheiten fußballspezifisch abdecken können, als wenn wir noch eine Stunde zusätzlich für physisches Training aufwenden müssten. Die heutigen Technologien ermöglichen es, auch das fußballspezifische Training sehr wisssenschaftlich zu evaluieren.

Beobachten Sie ein steigendes Interesse der Spieler an der Leistungsdiagnostik?

Broich Die heutige Generation ist damit groß geworden. Die Spieler wissen, je mehr Informationen ich über sie habe, desto gezielter kann ich auch auf sie eingehen. Und davon profitieren sie ja letztlich.

Stirbt der Schleifer aus?

Broich Schleifer gibt es bestimmt heute auch noch. Aber wir versuchen einfach, die neuesten Erkenntnisse der Sportwissenschaft zu nutzen und zu integrieren.

Was ist mit dem "Hügel der Leiden", den Felix Magath in Wolfsburg hatte?

Broich Das ist eine gute Sache. So einen Sprinthügel, den würde ich mir hier wünschen. Berg- oder Treppenläufe, die sind ja jetzt nicht irgendwie veraltet. Entscheidend ist letztlich die Trainingssteuerung. In welchem Umfang, mit welcher Intensität setze ich wie oft im Training welche Reize? Die Frage der Inhalte kommt erst danach.

Ist es den Trainern, mit den Sie in den vergangen zehn Jahren zusammengearbeitet haben, zunehmend leichter gefallen, Ihnen Teile der Trainingssteuerung komplett zu übertragen?

Broich Ich habe nie die Erfahrung gemacht hat, dass ein Trainer alles entscheiden wollte, nur weil er der Cheftrainer war. Im Gegenteil, die waren alle sehr offen, sehr innovativ und haben gesagt: "Okay, wir nutzen dieses Know-how."

Worin liegt die Kunst einer optimalen Saisonvorbereitung?

Broich Wir haben in diesem Jahr sechs Wochen bis zum ersten Pokalspiel, sieben bis zum Punktspiel. Da müssen wir natürlich schauen, dass wir uns in diesem Zeitraum bestimmte physische Grundlagen erarbeiten. Danach wird es schwer, weil dann die Phasen kommen, in denen wir fast nur noch Englische Wochen haben und mehr regenerieren als trainieren.

Wie individuell sind eigentlich die Trainingspläne, die jeder Profi mit in den Urlaub bekommt?

Broich Im Grunde genommen sehr speziell. Allein die Läufe sind ja schon ganz individuell gestaltet, jeweils über die Parameter Zeit und Herzfrequenz. Mehr kann ich ja nicht vorgeben. Natürlich gibt es verschiedene Läufe. Einen Simon Rolfes belaste ich anders als einen Sidney Sam. Sidney Sam hat große Fähigkeiten als Sprintertyp, ist jetzt aber vielleicht nicht der Dauermotor wie ein Simon Rolfes, ein Lars Bender oder ein Stefan Reinartz. Die Fähigkeiten, die ein Sidney Sam hat, darf ich ihm natürlich auch nicht nehmen, indem ich ihm sechs Wochen Dauerläufe verordne.

Klingt alles nach sehr, sehr viel Aufwand.

Broich Ja, aber das ist auch für mich das interessante. Fußball ist eine Mannschaftssportart, aber trainieren muss man im Grunde genommen wie in einer Individualsportart. Taktisch, technisch, alles, was auf dem Platz passiert, passiert im Mannschaftsrahmen, aber was davor und was danach passiert, was die Bereiche Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Flexibilität angeht, die sollte man so individuell gestalten, wie es nur eben geht. Das ist natürlich ein großer Aufwand.

Wie schwierig ist es, Spieler, die später in die Vorbereitung einsteigen, zu integrieren?

Broich Das ist eine große Herausforderung. Aber ich kenne das ja gar nicht anders. Und es ist ja auch positiv: Hätten wir diese Situation nicht, hieße das, wir haben wenig Nationalspieler. Deswegen sind die Leistungstests so wichtig, weil ich auf deren Grundlage die Belastung jedes einzelnen steuern kann.

Trainer freuen sich darüber, wenn ein Spielzug aus dem Training im Spiel funktioniert. Freuen Sie sich, wenn ein Spieler in der 90. Minute noch einen langen Sprint anziehen kann?

Broich Natürlich. Die Physis ist ja mein Bereich. Und wenn die gut ist, bin ich zufrieden. Aber es geht ja nicht um das einzelne Spiel, für uns ist die größte Herausforderung, dass die Spieler über einen möglichst langen Zeitraum fit sind, also für 50, 60 Spiele. Belastungssteuerung beinhaltet immer auch Verletzungsprophylaxe.

Wo hört Konditionstraining auf, wo fängt Willensschulung an?

Broich Es kann im Spiel der Punkt kommen, an dem ein Spieler sagt: "Puh, jetzt bin ich echt im roten Bereich." Und dann ist es natürlich nicht schlecht, wenn man auch mal über diesen toten Punkt hinausgehen kann. Aber, dass wir Willen speziell schulen? Nein.

Wie groß war Ihre eigene Willensleistung, dem Angebot des FC Bayern im Winter zu widerstehen?

Broich Das Angebot war für mich eine große Ehre, keine Frage. Darüber habe ich mich sehr gefreut. So etwas bekommt man ja auch nicht alle Tage. Aber ich habe hier ideale Bedingungen, konnte mich hier frei entfalten, auch was das Trainingszentrum angeht. Das sind für mich auch wichtige Eckpunkte. Ich lebe als Wissenschaftler ja auch von der "Hardware", mit der ich diagnostiziere. Ich habe zudem noch Vertrag bis 2016, das darf man auch nicht vergessen. Deswegen ist die Entscheidung letztlich auch so gefallen, wie ich sie getroffen habe. Und aktuell ist die Situation so, dass ich hier besser aufgehoben bin als jetzt in München.

Womit kann man Ihre Disziplin denn mal durchbrechen? Eis? Schokolade? Ein kühles Bier?

Broich (lacht) Das ist schwer, mich da aus der Reserve zu locken, das muss ich ganz ehrlich sagen. Die Spieler müssen sich disziplinieren, und ich muss das auch. Ich habe meine Tage, an denen ich um viertel nach fünf aufstehe, mein Programm mache, dann trainiere ich mit den Spielern, wenn die Spieler weg sind, trainiere ich noch mal für mich. Das ist mir persönlich wichtig. Wenn die Übungen anstehen, will ich sie auch vormachen können, und nicht mit einer Plautze herumlaufen. Das kommt auch gut an bei den Spielern.

Sind Sie denn wenigstens abends auch mal müde?

Broich Ja, das kommt durchaus vor.

STEFAN KLÜTTERMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH

(RP)
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