WM in Brasilien Oranje zählt nicht zu den Favoriten

Texel · Die niederländische Nationalelf, die Jahrzehnte für Offensivfußball stand, befindet sich im Umbruch. Trainer Luis van Gaal setzt am Freitag (21 Uhr/Live-Ticker) gegen Titelverteidiger Spanien auf die Defensive und bringt Intimfeind Johan Cruyff auf die Palme.

Louis van Gaal setzt gegen Spanien auf Defensive.

Louis van Gaal setzt gegen Spanien auf Defensive.

Foto: afp, DM/dg

Die niederländische Nationalelf, die Jahrzehnte für Offensivfußball stand, befindet sich im Umbruch. Trainer Luis van Gaal setzt am Freitag (21 Uhr/Live-Ticker) gegen Titelverteidiger Spanien auf die Defensive und bringt Intimfeind Johan Cruyff auf die Palme.

Irgendwas fehlt. In Den Burg, Hauptort der niederländischen Ferieninsel Texel, sieht alles aus wie immer. Hübsche kleine Häuschen, viele Schafe, typisch Holland halt. So wie immer. Genau das ist das Problem. Denn kurz vor einer Weltmeisterschaft herrscht normalerweise Ausnahmezustand. Dann ist auf Texel alles "Oranje". Häuser in Oranje, Schafe in Oranje (ernsthaft!), selbst die Frittensauce wird im Nachbarland normalerweise für ein paar Wochen eingefärbt. Normalerweise. Dieses Jahr gibt es ein paar vereinzelte Wimpelketten in den Schaufenstern, die Regale mit den signalfarbenen Fanartikeln bleiben seit Wochen prall gefüllt - Ladenhüter.

Die Niederländer sind extrem skeptisch, was die Chancen ihrer "Elftal" angeht. Viele glauben, Oranje werde die ach so schwere Vorrundengruppe mit Spanien, Chile und Australien nicht überleben. Und für die drei Spiele dekoriert der so nüchterne Niederländer erst gar nicht. Das kann man ja im Erfolgsfall noch schnell nachholen.

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Foto: AFP/MAURICE VAN STEEN

Verständliche Zurückhaltung

Die Zurückhaltung ist durchaus verständlich. Erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit fährt Holland nicht als Mitfavorit zu einem großen Turnier. Die Mannschaft ist im Umbruch, zum ganz großen Wurf fehlt die Qualität. Vor allem in der Abwehr. Das sieht auch Trainer Louis van Gaal. Zugunsten des Erfolgs wirft der Trainer deshalb sein eigenes Weltbild über den Haufen.

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Van Gaal predigte immer den offensiven Fußball. In seiner Biografie "Louis van Gaal - Biografie & Vision" schreibt er davon, Abwehrriegel zu verabscheuen. In seinem Vertrag steht eine Klausel, die offensiven Fußball nach der "Hollandse School" vorschreibt. Und 2010, nach dem verlorenen WM-Finale gegen Spanien, mokierte er sich noch über die knüppelharte, defensive Spielweise seiner Landsleute. Selbst im Amt, interessiert das Geschwätz von gestern nicht mehr. Gegen Spanien wird der Amsterdamer morgen voraussichtlich - neben Ajax-Torhüter Jasper Cillessen - stolze sieben Defensivspieler auf dem Platz schicken.

In einem 5-3-2-System soll Holland spielen, fünf Abwehrspieler, das gab es im Flügelstürmer-verrückten Nachbarland noch nie. Hinten werden die Schotten dicht gemacht, vorne sollen es Arjen Robben, Robin van Persie und Wesley Sneijder - die einzig verbliebenen Weltstars - über schnelles Konterspiel richten. Schön ist anders.

Cruyff kritisiert das neue System

Dementsprechend groß ist die Skepsis, die auf van Gaal einprasselt. Johan Cruyff, neben seinem Job als Fußballlegende auch noch van Gaals ausgemachter Intimfeind, wettert seit Wochen gegen das neue System. "Das ist ein Risiko", sagt er. "Niederländer wachsen damit auf, mit Außenstürmern zu spielen." Die Spieler selbst können die Entscheidung des Trainers jedoch nachvollziehen. "Im Moment sind wir nicht in der Lage, Tiki-Taka zu spielen", sagt Arjen Robben. "Und letztlich zählt der Erfolg."

Das weiß keiner besser als van Gaal. Die Weltmeisterschaft ist eine Obsession für ihn, er war schließlich 2002 der einzige "Bondscoach" in den vergangenen 26 Jahren, der die Qualifikation zu einem großen Turnier verpasste. Das nagte an ihm, umso besser wollte er es jetzt machen. "Ohne Holland fahr'n wir zur WM", riefen ihm die Deutschen damals zu.

Doch auch das Trauma von 2010 wirkt noch nach. Es war nicht das erste Mal, dass die Niederländer ein Weltmeisterschaftsfinale verloren. Doch anders als bei den Pleiten 1974 (gegen Deutschland) und 1978 (gegen Argentinien) hatte Oranje nicht mehr die moralische Überlegenheit des schöner spielenden Verlierers auf der Seite.

Das Fachblatt "Voetbal International" rekonstruierte in seiner WM-Ausgabe das Finale von Johannesburg noch einmal auf sechs Seiten. Es schreibt von einem "abscheulichen Schauspiel", von einem Abend, "an dem das immer positive Image Oranjes begraben wird. Holland wollte das Spiel nicht verlieren, verlor an diesem Abend aber Millionen Freunde". Nach der desaströs verlaufenen Europameisterschaft 2012 startete van Gaal seinen Umbruch. Nur noch sieben Spieler des Final-Kaders sind dabei, die Mannschaft wurde dramatisch verjüngt. Doch große Talente rücken in letzter Zeit nicht mehr nach. Die mühelose WM-Qualifikation kaschierte die Missstände zwar noch, doch spielte Holland dort nur gegen fußballerische Tiefflieger.

Gegen Mannschaften aus der Top 20 der Weltrangliste gewann man indes seit Ewigkeiten nicht. Erst im vorletzten Testspiel gegen Ghana gelang der erste Länderspielsieg im Jahr 2014.

WM-Form sieht anders aus. Und deswegen lassen die Niederländer ihre Oranje-Deko noch eine Weile im Schrank.

(RP)
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