WM-Kolumne Brasilien muss sich steigern, sonst droht das Aus

Rio de Janeiro · Der Top-Favorit dieser WM hat bisher enttäuscht. Die Mannschaft von Trainer Scolari ist nicht kompakt genug, schaltet zu langsam um. Morgen im Achtelfinale gegen Chile darf Brasilien sich diese Schwächen nicht erlauben, sonst ist der Traum vom Titel früh beendet.

 Hannes Linssen schreibt für unsere Redaktion über die WM in Brasilien.

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Foto: Phil Ninh

Ich gebe zu, mir gefällt es sehr gut, mit welcher Leidenschaft die Brasilianer ihre Nationalhymne singen. Das reißt die Zuschauer mit, bringt sie von Anfang an hinter die Mannschaft. Und ich scheue mich in diesem Zusammenhang auch nicht zu sagen, dass ich das Verhalten einiger deutscher Spieler inkonsequent finde. Leute wie Mesut Özil oder Jerome Boateng haben sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden - warum wollen sie dann nicht die Hymne singen? Was man von ihnen dazu an Kommentaren hört, klingt für mich nicht plausibel.

Doch zurück zu den Brasilianern: Das Singen ist bis jetzt leider die einzige Disziplin, in der sie vollauf überzeugen konnten. Was sie fußballerisch gezeigt haben, war durchschnittlich, und die Sache wird dadurch nicht wesentlich besser, dass dieser Durchschnitt locker gereicht hat, die Vorrunde zu überstehen.

Sicher, man darf nicht vergessen, dass kein anderer Teilnehmer dieser WM-Endrunde auch nur annähernd so stark unter Druck steht wie Gastgeber Brasilien. In diesem Land zählt nur der Titel, schon der zweite Platz wäre in den Augen der Bewohner dieses fußballverrückten Landes eine große Enttäuschung. Insofern billige ich der Mannschaft durchaus einige mildernde Umstände zu - dennoch bin ich von den bisherigen Vorstellungen des Top-Favoriten enttäuscht.

Zum Beispiel schaltet die Mannschaft nicht schnell genug auf Defensive um, wenn der Ball einmal verloren geht. Neymar ist ein hochtalentierter Fußballer, aber man sieht ihm ebenso wie Stürmer Fred in beinahe jeder Szene an, dass er gar keine Lust verspürt, nach hinten mitzuarbeiten.

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Foto: dpa, ase

Brasilien wirkt nicht kompakt genug für die Anforderungen des modernen Fußballs - und das ist umso verwunderlicher, weil Trainer Luiz Felipe Scolari seit langer Zeit auf dieselben Profis setzt. Das muss man sich einmal vorstellen: In den Gruppenspielen hat Scolari dieselbe Startelf nominiert wie vor einem Jahr im Finale des Confederations Cup. Seitdem hat es 20 Testspiele gegeben, und Scolari vertraut dennoch denselben Leuten. Da sollte man erwarten können, dass seine Truppe eingespielt ist wie kein zweites Nationalteam, aber genau das ist bei der WM bislang nicht der Fall.

Das schwache Umschalten nach hinten habe ich schon erwähnt - doch auch die Vorwärtsbewegung sieht nicht wirklich einstudiert aus. Für eine Mannschaft dieser Klasse, für diese Erwartungshaltung lebt Brasilien viel zu sehr von Einzelaktionen. Gegen Kamerun hat Neymar diese geliefert, aber ansonsten wirkt er auf mich mehr wie der Hauptdarsteller auf irgendeiner Bühne als wie ein echter Teamplayer.

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Oder Oscar: Er war für mich der überragende Spieler bei Brasiliens Sieg im Eröffnungsspiel gegen Kroatien. Deshalb hatte ich in den folgenden Partien eine Menge von ihm erwartet und war im Ergebnis tief enttäuscht, denn von Oscar war in der Folge gar nichts mehr zu sehen. Oder die Abwehr: Ich weiß nicht, ob Thiago Silva und David Luiz die besten Innenverteidiger der Welt sind, auf jeden Fall sind sie die teuersten. Die entsprechende Souveränität haben sie nicht.

Insgesamt wirken die Brasilianer als Mannschaft nicht gefestigt, sie sind nicht sicher in ihrem Spiel, nicht von einer Idee getragen. Und am Samstag haben sie zum Auftakt des Achtelfinales ein ganz spannendes Spiel vor Augen, gegen extrem aggressive und gut geordnete Chilenen. Diese Mannschaft hat auf mich bislang einen deutlich besseren Eindruck gemacht als die Gastgeber. Keine Frage: Jetzt muss Brasilien Farbe bekennen. Wenn Scolaris Startruppe sich jetzt nicht steigern kann, dann wird sie ausscheiden.

Hannes Linssen (64) stammt aus Wachtendonk und war Fußballprofi beim MSV Duisburg und bei Fortuna Köln. Zudem arbeitete er als Sportdirektor beim 1. FC Köln.

(RP)
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