Probleme vor WM haben Tradition Joachim Löw ist dankbar für den Warnschuss gegen Chile

Stuttgart · Chile hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft entzaubert. Doch Lehrstunden, wie sie das Team in Stuttgart erleben musste, gehörten auch vor den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 zur Vorbereitungsphase.

 Absolute Topform wäre besser, aber der Spielverlauf gegen Chile kam Bundestrainer Joachim Löw nicht ungelegen.

Absolute Topform wäre besser, aber der Spielverlauf gegen Chile kam Bundestrainer Joachim Löw nicht ungelegen.

Foto: afp, pst/dg

Joachim Löw trug "schon auch" ein Blitzen des Triumphs in den Augenwinkeln. Ein klarer Fall von "Siehste-hab-ich's-nicht-gesagt"-Gesicht. Zwei Tage nach einer ernsten Rede an die Fußballnation, in der Deutschlands oberster Übungsleiter seine Spieler zur vollen ("högschden") Konzentration auf das große Ziel Weltmeisterschaft Brasilien aufgerufen hatte, legte Chile im Testspiel in Stuttgart die Schwächen der DFB-Auswahl bloß.

Drei Monate vor dem Turnier wurden alle Baustellen sichtbar, die Löw bearbeiten muss. Deshalb erklärte der Bundestrainer geradezu dankbar: "Das war genau der Gegner, den wir gebraucht haben." Und sein Innenverteidiger Per Mertesacker stellte sehr zu Recht fest: "Das war eine Lehrstunde."

Sie endete mit einem absurden Ergebnis. Deutschland gewann nach einem frühen Tor durch Mario Götze, das Resultat einer der wenigen sehr lichten Momente im deutschen Spiel gewesen war, mit 1:0. Die Chilenen aber hatten vor allem im zweiten Durchgang Torchancen für zwei Spiele. Zwölf hatte ihr Trainer Jorge Sampaoli gezählt — es können auch ein paar weniger gewesen sein. Sicher aber ist, dass der Gast aus Südamerika die deutsche Elf phasenweise vorführte, wie das noch keinem Gegner in der immerhin schon acht Jahre währenden Löw-Ära gelungen ist.

Das begann schon mit heftigen Attacken gegen das deutsche Aufbauspiel aus der Abwehr. "Unser Plan war, die Außenpositionen zu blockieren, damit Mertesacker und Boateng nicht hinten herausspielen konnten", erklärte Sampaoli. Dieser Plan ging häufig auf, und das deutsche Spiel versandete dann in hilflos geschlagenen langen Bällen. Wenn sich die deutsche Elf mal aus der Umklammerung spielerisch befreite, leistete sie sich in Überzahl viel zu viele leichte Ballverluste.

Und da offenbarte sich das erste große Problem. Das Umschaltspiel von Angriff auf Abwehr funktionierte nicht, die "riesigen Räume" (Löw) im zentralen Mittelfeld wurden nicht geschlossen, und die Verteidigungsreihe spielte dadurch über weite Strecken in Unterzahl. Offenbar herrschte auf dem Feld Unsicherheit darüber, wie die ungehörigen Abstände zwischen vorderster und hinterster Linie verringert werden können.

Es gibt da mehrere taugliche Entwürfe. Dortmund beispielsweise schließt die Räume durch hingebungsvolles gemeinsames Verteidigen der ganzen Mannschaft und extreme Verdichtung im zentralen Mittelfeld. Bayern München bevorzugt dagegen eine sehr offensive Verteidigung. Löw ist eher ein Freund der Münchner Variante.

Vielleicht hätte er es den Außenverteidigern Kevin Großkreutz und Marcel Schmelzer verraten sollen. Vielleicht hat er es auch getan. Aber die Außen rückten nicht hoch auf, und das zentrale Mittelfeld mit anerkannten Größen wie Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm bekam keinen Zugriff aufs Spiel — auch weil das vordere Mittelfeld Teilzeitbeschäftigung als Abwehrkraft offenkundig ablehnte.

Die Chilenen freute das ebenso, wie es erstklassige Konkurrenz bei der WM freuen wird. Sie kombinierten sich munter mit ständigen Positionswechseln in die gefährlichen Zonen. Und sie waren zum Glück für die Deutschen so freundlich, dabei das Toreschießen zu vernachlässigen.

Möglicherweise war das gar kein Glück, denn es verminderte im ersten Rückblick den Lerneffekt. "Sieg ist Sieg", sagte beispielsweise Schweinsteiger in erstaunlicher Verkennung der Wirklichkeit. Tatsächlich wurde ihm und seinen Kollegen vor Augen geführt, dass Löw ziemlich richtig lag, als er absolute Fitness zum entscheidenden Kriterium für einen Erfolg bei der WM erhob. Die Chilenen deckten Mängel durch ihr schnelles, extrem aggressives Spiel auf. "Und es muss niemand denken, dass solche Mannschaften unter den Witterungsbedingungen in Brasilien anders spielen werden", mahnte Löw.

Für seine Elf und auch für das Stuttgarter Publikum war das erste Länderspiel des WM-Jahres eine Art negatives Erweckungserlebnis. Das Publikum pfiff sich seine Sorge um ein gutes Ergebnis in Brasilien vom Leib. Die Mannschaft musste erkennen, dass mit 85 Prozent der Leistungsfähigkeit europäische Laufkundschaft in der Qualifikation kontrolliert werden kann, aber nicht die erweiterte Weltspitze, zu der Chile gehört. Und Löw stellte fest: "Alle haben gesehen, dass es auch andere Nationen gibt, die hervorragend Fußball spielen. Ich sehe viel internationalen Fußball. Mir muss niemand weismachen, dass es nur in Deutschland gute Fußballer gibt. Vielleicht war es gut, dass das alle mal mitgekriegt haben."

Sein Auftrag an die einstweilen entzauberten Hoffnungsträger: "Alle müssen ihr individuelles Leistungsniveau optimieren. Die Spieler müssen erkennen: Ich muss noch was drauflegen." Zeit genug haben sie. Und ein Blick in die jüngere Vergangenheit belegt, dass Lehrstunden positive Effekte haben können. 2006 verlor die DFB-Auswahl mit 1:4 in Italien. Die Nation heulte auf, bei der WM wurde Deutschland Dritter. 2010 erteilte Argentinien den Deutschen in München bei einem 1:0-Sieg eine taktische Lektion. Bei der WM wurde Deutschland Dritter. Die Testspiel-Niederlagen hatte es sich jeweils Anfang März eingehandelt.

(RP)
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