Heimstätte des FC Liverpool Anfield Road - die Straße des Fußballs

Liverpool · Jürgen Klopp trainiert seit Oktober in England. Mit Liverpool hat er sich einen besonderen Arbeitsplatz ausgesucht. Unser Autor hat der legendären Anfield Road einen Besuch abgestattet.

FC Liverpool: Ein Besuch an der Anfield Road
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Ein Besuch an der Anfield Road

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Foto: Patrick Scherer

John überlegt einen Moment. Dann greift er das bis zum Rand gefüllte Glas und nimmt einen großen Schluck Brown Ale, bevor er sagt: "Weißt du, Klopp hat uns den Glauben zurückgebracht." John ist Fan der "Reds", der Roten vom Liverpool Football Club. Der 67-Jährige sitzt im Pub "The Park" direkt gegenüber dem legendären Stadion an der Anfield Road. Auf dem Bildschirm läuft das Spiel zwischen Liverpool und Tabellenführer Arsenal FC, das auf der anderen Straßenseite vor wenigen Minuten angepfiffen wurde.

Seit Anfang Oktober ist Jürgen Klopp Trainer des Traditionsklubs in der englischen Premier League. 22 Spiele in vier Wettbewerben, zehn Siege, fünf Niederlagen - Tabellenplatz neun. Die wenig berauschende Zwischenbilanz schmälert nicht das Vertrauen, das dem 48-Jährigen entgegengebracht wird. "Nicht in dieser Saison, aber innerhalb der nächsten 18 Monate erwarten wir, dass wir in jedes Spiel als Favorit gehen", sagt John, der einen Barber Shop in der Innenstadt betreibt. Der bisher letzte Erfolg war der Gewinn des Ligapokals 2012. Der FA-Cup fand zuletzt 2006 den Weg nach Liverpool, der Champions-League-Pokal 2005 und die englische Meistertrophäe 1990.

Liverpool, die knapp eine halbe Million Einwohner zählende Hafenstadt am Fluss Mersey im Nordwesten Englands, definiert sich selbst hauptsächlich durch zwei Gesprächsthemen: Fußball und Musik. In Souvenirläden ist die riesige Auswahl an Plunder in drei Sektionen aufgeteilt: The Beatles, LFC und Everton FC. Der blaue Stadtrivale und die Reds waren ursprünglich ein Verein, ehe es 1892 zur Spaltung kam. Everton zog von der Anfield Road in den 800 Meter Luftlinie entfernten Goodison Park um. "Wenn in Liverpool ein Baby zur Welt gebracht wird, geht es nur darum, wer ihm zuerst einen Strampelanzug in Rot oder Blau anzieht", sagt John.

Im Cavern Club, dem Nachtclub im Stadtzentrum, in dem die Beatles in ihrer Anfangszeit in den frühen 1960er Jahren knapp 300 Mal aufgetreten sind, arbeitet der 40jährige Scott als Kellner. Seit er sechs Jahre alt ist, ist er im Besitz einer Dauerkarte für "The Kop", der Tribüne für die treuesten LFC-Fans. "Wir hätten nie gedacht, dass Klopp für uns seinen Urlaub unterbricht", sagt Scott mit verschmitztem Lächeln. "Er passt perfekt nach Liverpool. Er liebt den Fußball genauso, wie alle hier. Selbst den Blauen kann man das nicht absprechen. Klopp hat eine laute Stimme, die von Leidenschaft geprägt ist. Das mögen wir." Scott erklärt, dass das LFC-Fanlager gespalten ist. Er gehöre zu denen, die unbedingt mal wieder die Meisterschaft gewinnen wollen. Es gebe aber auch diejenigen, die nur unter die ersten vier Teams kommen wollen, um in der Champions League zu spielen und da den sechsten Titel zu gewinnen.

Nach seinem Amtsantritt in Dortmund dauerte es drei Jahre, bis Klopp den ersten Titel, die Meisterschaft, bejubeln konnte. Das wissen die Liverpudlians, wie die Einwohner genannt werden. Auch weil TV-Dokumentationen das Leben des gebürtigen Stuttgarters bis ins kleinste Detail beleuchtet haben.

Jürgen Klopp verliert Duell mit Louis van Gaal
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Klopp verliert Duell mit van Gaal

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Foto: afp, dan

Den Stadtbezirk Anfield erreicht der wirtschaftliche Aufschwung nach Krisenzeiten, die Mitte der 1980er Jahre in mehrtägigen Ausschreitungen gipfelten, nur langsam. Die Armut in der Gegend rund um das Stadion, das sich derzeit im Ausbau auf 58.880 Plätze befindet, ist offensichtlich. Der Putz bröckelt von den klassisch britischen "Back-to-back"-Reihenhäusern, die Telefonleitungen hängen durchtrennt an den Wänden, und Straßenreinigung findet allem Anschein nach gar nicht mehr statt. Der Leerstand ist immens, die Fenster sind mit Stahlplatten von Sicherheitsfirmen verbarrikadiert. Hinweisschilder warnen vor dem Betreten. Um das Leben in diesem und anderen verarmten Vierteln anzukurbeln, hat der Rat der Stadt den "Zuhause-für-ein-Pfund-Plan" verabschiedet. Die leerstehenden Häuser werden für ein Pfund quasi verschenkt. Voraussetzung: Sie werden in einen wohnbaren Zustand versetzt und fünf Jahre lang nicht verkauft.

Es sind noch zwei Stunden bis zum Anpfiff des Topspiels gegen Arsenal. An einer Straßenecke kurz vor dem Stadion steht David und verkauft nicht lizenzierte Fanartikel des Liverpool FC. Darunter sind Schals und T-Shirts mit Konterfeis von Klopp. "Die Sachen verkaufen sich sehr gut. Noch hat er ja nicht viel falsch gemacht. Gut, wir haben ein paar Mal verloren. Aber das passiert eben in einer Saison", sagt David. Er spricht Scouse, auch als Merseyside English bekannt. Selbst wenn er sich bemüht, den Dialekt abzustellen, kann er das Verschlucken von Vokalen und Konsonanten gleichermaßen nicht verhindern.

Auch im offiziellen Fanshop sind Klopp-Artikel in allen Variationen erhältlich. Shirts, Schals, Fahnen, Tassen, Magnete, Mousepads. Sogar Klopp-Masken zur Verwandlung in "The Normal One", wie er sich selbst in Abgrenzung zum mittlerweile entlassenen Chelsea-Manager José Mourinho ("The Special One") taufte, sind erhältlich. Der Personenkult nimmt im englischen Fußball einen anderen Stellenwert ein als im deutschen. Nahezu jeder Spieler, der halbwegs erfolgreich gegen den Ball treten kann, bekommt seinen auf ihn zugeschnittenen Fangesang. Klopp hat natürlich auch schon einen - noch ist dieser aber sehr simpel gestrickt. Klopps Name wird in der Melodie von KC & The Sunshine Bands "Give it up" geträllert.

Im Park Pub ertönt das Klopp-Lied etwa eine Stunde vor der Partie erstmals. Die Stimmung wird direkt proportional zum Alkoholkonsum gewaltiger. Zum guten Ton gehört, die nächste Runde schon zu ordern, bevor das Pint-Glas leer ist. Ohne Bier da zu sitzen oder zu stehen, stellt für den Großteil der Anhänger keine Option dar. An den Wänden hängen allerlei Memorabilien der vielfältigen Vereinsgeschichte. Es wird an die großen Erfolge erinnert. Auch der Leitspruch "Justice for the 96" springt dem Betrachter häufig ins Auge. Zugrunde liegt eine der beiden Tragödien der Vereinsgeschichte: Hillsborough 1989. In einem völlig überfüllten Gästeblock starben 96 Liverpool-Anhänger. Erst 2012 wurde aufgearbeitet, dass nicht LFC-Fans, sondern Ordnungskräfte Schuld am Unglück trugen. Die jahrelangen Verleumdungen sitzen tief bei den Fans, haben sie als Gemeinschaft aber noch enger zusammengeschweißt. Hillsborough war nach der Katastrophe im Heysel-Stadion 1985, bei der 39 Menschen ihr Leben verloren, das zweite einschneidende Negativerlebnis für den LFC. Für die Manager ist von enormer Bedeutung, bei der Angelegenheit Hillsborough den richtigen Ton zu treffen. Gelingt das nicht, ist der Liebesentzug der Fans sicher. Klopp hat es geschafft, dem Thema sensibel zu begegnen. Da verzeihen ihm die Supporter auch, dass er manchmal noch die falschen englischen Wörter benutzt.

Ein paar Straßen vom bekannten Albert Dock entfernt hat das "Liverpool Echo" seine Redaktionsräume. "Jürgen entschuldigt sich zwar immer für sein Englisch, aber es gibt Manager in der Liga mit schlechterer Aussprache - und da sind gebürtige Engländer dabei", sagt Neil, Sportreporter bei der größten Tageszeitung vor Ort. Den Sinn hinter seinen grammatisch teils nicht ganz korrekten Sätzen, verstehe man ohnehin einwandfrei. "Klopp ist populär. Man will ihm zuhören. Bei den Anhängern ist er nahezu durchgehend beliebt. Ich kenne kaum einen, der an ihm zweifelt", sagt Neil. Das war bei Vorgänger Brendan Rodgers ganz anders, berichtet Neil, der seit Jahren beide Liverpooler Klubs begleitet. "Was Fußball angeht, habe ich so eine Begeisterung wie in den ersten Tagen, nachdem Klopp unterschrieben hatte, in England noch nicht erlebt. Das war fast ein bisschen viel, der Fußball kam dabei manchmal zu kurz." Die erste Aufregung habe sich nun gelegt, an Popularität habe Klopp aber nicht eingebüßt. Das liege vor allem daran, dass er verstehe, worum es in Liverpool geht. "Jürgen hat von Anfang an erkannt: Liverpool ist eine Arbeiterstadt, in der die Menschen im Fußball zusammen mit ihren Freunden die soziale Flucht von alltäglichen Problemen betreiben. Liverpool ist nicht Barcelona oder Madrid, wo der Fußball ein Event ist", erklärt Neil. Die Historie des Liverpool FC habe aber auch gezeigt, dass es, um einen bleibenden Eindruck bei den Reds-Supporters zu hinterlassen, für Manager nur einen Weg gibt: Titel. "Wenn er den FA-Cup, die Meisterschaft, die Champions League oder vielleicht auch nur die Europa League gewinnt, dann wird ihn das bis in die Ewigkeit mit den Fans verbinden", sagt Neil, "Jürgen ist ein Gewinnertyp, das wird auch sein Ziel sein."

Im Park Pub arbeitet sich John am fünften Pint während des Spiels ab. Seine Dauerkarte hat er für dieses Spiel seinem Neffen überlassen. Es läuft die Schlussminute. Liverpool liegt nach zweimaliger Führung mit 2:3 zurück. John schaut gebannt auf den Bildschirm, hat kurz zuvor aber bereits die im gesamten Weltfußball üblichen Phrasen von sich gegeben, die eine drohende Niederlage beschönigen: "Aber es ist ein tolles Fußballspiel" und "Wenigstens haben wir zwei tolle Tore gemacht." Dann beobachtet er, wie ein hoher Ball in den Strafraum fliegt, Kopfballablage, Volley - 3:3. Und nachdem John von seiner Jubelrunde an seinen Sitzplatz zurückgekehrt ist und auf dem Bildschirm die Zeitlupe von Klopps Jubellauf beobachtet, dreht er sich freudestrahlend um: "Weißt du jetzt, wovon ich spreche?"

(erer)
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