Ausschluss russischer Leichtathleten gefordert Wada-Bericht erschüttert die Sportwelt

Olympia-Verbannung, Ausschluss aus der Leichtathletik-Familie, weltweite Ächtung: Die Doping- und Betrugsaffäre in der russischen Leichtathletik weitet sich zu einem der größten Skandale der Sportgeschichte aus und könnte auf breiter Front drastische Folgen nach sich ziehen.

 Marina Sawinowa hätte in London laut Wada nicht an den Start gehen dürfen.

Marina Sawinowa hätte in London laut Wada nicht an den Start gehen dürfen.

Foto: ap

Die Forderung einer unabhängigen Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, den russischen Leichtathletik-Verband ARAF wegen Nicht-Einhaltung des Anti-Doping-Codes aus dem Weltverband IAAF auszuschließen, stellt den Sport auf seinen höchsten Ebenen vor eine Zerreißprobe.

"Es ist schlimmer, als wir dachten", sagte der Kommissionsvorsitzende Richard Pound vor mehr als 100 Journalisten im Fünf-Sterne-Hotel Mandarin Oriental in Genf. Der ehemalige Wada-Präsident und IOC-Vize sprach von "staatlich gestütztem Doping" und bezichtigte selbst Russlands Sportminister Witali Mutko der Mitwisserschaft.

Pound empfahl ausdrücklich den Ausschluss russischer Leichtathleten von den Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro, falls Russland keine nachhaltigen Schritte aus dem Sumpf unternehmen sollte: "Ich hoffe, sie haben verstanden, dass es Zeit zu handeln ist."

Das scheint nicht der Fall. Mutko konterte umgehend. "Es gibt keinen Grund zur Verwirrung: Die Kommission hat kein Recht, irgendjemanden zu suspendieren", sagte der Sportminister der Nachrichtenagentur Ria Novosti. Ein ARAF-Anwalt sprach von einem "politisch motivierten Vorgang" und ergänzte: "Wenn sie wirklich gute Gründe für eine Suspendierung hätten, wäre diese schon verhängt worden".

Sollte jedoch die Wada das Maßnahmenpaket der Kommission übernehmen und offiziell an die IAAF und das Internationale Olympische Komitee weiterreichen, läge ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Sports in der Luft: der Ausschluss eines kompletten Landesverbandes von internationalen Wettbewerben wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen. Der Wada-Vorsitzende Craig Reedie ging in einem ersten Statement nicht auf die Ausschluss-Forderungen ein.

Unabhängig vom Fortgang der Dinge setzt der Paukenschlag der Kommission die Wada, die IAAF und auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) enorm unter Druck. Denn die Untersuchungsergebnisse übertrafen die schlimmsten Befürchtungen und lassen den großen Organisationen wenig Spielraum für harmlose Sanktionen. Sogar die Polizei-Behörde Interpol kündigte Maßnahmen an und startete am Montag umgehend die "Operation Augias" mit weltweiten Ermittlungen.

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Der neue IAAF-Präsident Sebastian Coe nannte die Untersuchungsergebnisse "alarmierend" und versprach Aufklärung. "Wir benötigen Zeit, um die detaillierten Ergebnisse des Berichtes vollständig zu verarbeiten und zu verstehen. Dennoch habe ich das Council aufgefordert, den Prozess zur Überprüfung von Sanktionen gegen die ARAF einzuleiten. Diesen Schritt nehmen wir nicht auf die leichte Schulter", wurde Coe in einer Pressemitteilung zitiert: "Wir werden alles tun, um saubere Athleten zu schützen und das Vertrauen in unseren Sport wiederherzustellen." Das IOC unterstützte Coe in seinem Kurs. "Wir haben vollstes Vertrauen, dass die neue Führung der IAAF unter Präsident Sebastian Coe alle notwendigen Schlussfolgerungen zieht und die notwendigen Maßnahmen in Angriff nimmt", hieß es in einer Mitteilung.

Es wird eng für Russland, wo 2018 die Fußball-WM stattfinden soll. Systematische Dopingkultur, ein Korruptionsgeflecht mit der IAAF-Spitze und sogar das Mitwirken des russischen Geheimdienstes FSB: Die Wada-Kommission sieht es als erwiesen an, dass eine "tief verwurzelte Betrugskultur" geherrscht habe.

Nach Überzeugung der Kommission war auch die russische Regierung aktiv beteiligt. "Ich glaube nicht, dass es irgendeine andere mögliche Schlussfolgerung gibt", sagte Pound. DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel, langjähriges Council-Mitglied des IAAF bezeichnete den Skandal im SID-Gespräch umgehend als "noch viel schlimmer als den Fall Ben Johnson."

Drahtzieher bei der IAAF soll der langjährige Präsident Lamine Diack sein. Gegen den 82-Jährigen und weitere Beschuldigte, darunter zwei seiner Söhne, wurde in der vergangenen Woche in Frankreich wegen des Verdachts der Korruption und Bestechlichkeit ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Kommission hatte den staatlichen Ermittlern entsprechende Hinweise gegeben. Die Beschuldigten sollen gegen Zahlung von mehr als einer Million Euro positive Dopingproben vertuscht haben.

Dies alles führe laut Kommission dazu, "dass weder die ARAF, die russische Anti-Doping-Agentur (RUSADA) noch die russische Föderation als regelkonform mit dem WADA-Code angesehen werden können".

Auf insgesamt 320 Seiten zerstört der Bericht der Kommission jeden noch vorhandenen Rest an Glaubwürdigkeit in den russischen Sport und die Arbeit des Weltverbandes IAAF. Und er enthüllte dabei Mafia-Methoden, die die Sportwelt bis ins Mark erschüttern.

Erstmals wurde nachgewiesen, dass ein Weltverband durch die Vertuschung positiver Dopingproben selbst dafür sorgte, dass die Ergebnisse internationaler Wettbewerbe verfälscht wurden. So hätten unter anderem die spätere 800-m-Goldmedaillengewinnerin Marina Sawinowa 2012 in London nicht an den Start gehen dürfen. Die unabhängige Kommission befürwortet in ihrem Bericht eine lebenslange Sperre für sie wegen Dopings. Insgesamt forderte die Kommission Sanktionen gegen fünf Sportler, vier Trainer und einen Mediziner sowie Nachuntersuchung in zahlreichen weiteren Verdachtsfällen.

Heftig beschuldigt wurden auch das Moskauer Anti-Doping-Labor und dessen Chef Gregori Rodschenkow. Nach Angaben der Kommission sei das Labor nicht in der Lage, eigenständig zu handeln, Mediziner und Laborpersonal hätten den Betrug ermöglicht. Zudem seien "mut- und böswillig" mehr als 1400 Proben zerstört worden, nachdem die Wada Zielkontrollen angeordnet hatte. Dem Labor soll die Akkreditierung entzogen und Rodschenkow "dauerhaft" von seinem Posten entfernt werden.

Beteiligt an den Vorgängen sei sogar der russische Inlandsgeheimdienst FSB. Dieser habe während der Olympischen Winterspiele in Sotschi das Labor überwacht und in wöchentlichen Treffen nach Angaben eines Informanten auch Material über die Wada gesammelt.

Spannend wird nun die Frage sein, ob und wie die verantwortlichen Stellen bei der Wada, der IAAF und beim IOC den Maßnahmenkatalog des Berichts umsetzen. "Es kann keine Antwort sein zu sagen, dass die Leichtathletik, die IAAF oder Russland zu wichtig seien, um sanktioniert zu werden", hieß es in dem Bericht.

(sid)
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