9,77 Sekunden in Brüssel Gatlin mit Forrest Gump so schnell wie mit Doping
Der mehrfach überführte Doping-Sünder Justin Gatlin ist der umstrittenste Sprinter der Szene. Nach seinen Glanzzeiten in Brüssel will er sich nun Usain Bolt vornehmen.
Das angebliche Erfolgsgeheimnis des umstrittensten Sprinters der Welt ist verblüffend simpel. "Bevor ich raus gehe und renne, schaue ich mir oft Forrest Gump an", sagte Justin Gatlin: "Wenn er läuft, legt er einfach los. Und das ist auch meine Mentalität — einfach nach vorne."
Mit breitestem Grinsen absolvierte Gatlin nach seinem Husarenstück beim Diamond-League-Meeting in Brüssel die Pressekonferenz, plauderte freundlich, witzig, originell, und man war geneigt, sich mit ihm über eine außergewöhnliche Leistung zu freuen: Erst die Jahresweltbestzeit von 9,77 Sekunden über 100 m, 70 Minuten später dann kaum minder grandiose 19,71 über 200 m. Doch jeder dominante Auftritt des 32 Jahre alten Amerikaners hat einen Nachgeschmack bitter wie Galle.
Gatlin gehörte zu den schwärzesten Schafen der ohnehin schlecht beleumundeten Sprintszene: 2001 wurde er mit Amphetaminen im Blut erwischt, 2006 mit Testosteron. Dazwischen holte Gatlin 2004 Olympia-Gold über 100 m, 2005 WM-Titel über 100 und 200 m.
Dass Gatlin im Jahr 2014 die 100 m wieder nach Belieben dominiert darf, bei 16 Starts ungeschlagen blieb, ist eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass die sportgerichtlichen Instanzen ungewöhnliche Milde walten ließen.
2001 hätte Gatlin zwei Jahre gesperrt werden müssen — der Weltverband IAAF beließ es bei einem. Der Test von 2006 hätte eine lebenslange Sperre nach sich ziehen sollen — es wurden nur acht Jahre, weil Gatlin als Kronzeuge gegen seinen Ex-Coach Trevor Graham aussagen wollte. Gatlin erreichte später sogar eine weitere Reduzierung auf vier Jahre — und darf seit 2010 wieder laufen, mittlerweile so schnell wie in dunklen Zeiten.
"Dahinter steckt schon eine gewisse Ironie", entgegnete Gatlin in Brüssel auf die Anmerkung eines Journalisten, dass seine 9,77 exakt die Zeit von Doha 2006 sei. Damals hatte er den Weltrekord eingestellt, kurz vor der zweiten Dopingsperre — die Marke wurde aus den Bestenlisten gestrichen.
Der Gatlin von heute steckt in einem Dilemma: Je schneller er seinem schlechten Ruf davonlaufen will, desto schneller holt ihn seine Vergangenheit ein. Kurz gefragt: Wie kann ein sauberer 32-Jähriger so schnell laufen wie als gedopter 24-Jähriger? Sein Trainer trägt nicht zu Gatlins Glaubwürdigkeit bei: Dennis Mitchell, 1992 Olympiasieger mit der US-Staffel und ebenfalls Graham-Schützling, ist selbst überführter Dopingsünder (Testosteron, Wachstumshormone).
"Ich setze mir generell keine Grenzen", sagt Gatlin, er könne noch signifikant zulegen: "Eine niedrige 9,6 oder schneller" sei über 100 m möglich, "eine 19,5" über 200. Und das soll dann durchaus eine Kampfansage an Weltrekordler Usain Bolt sein: "Ich habe großen Respekt vor ihm. Aber kommendes Jahr will ich versuchen, ihn zu schlagen."
Bolt, dessen Bestmarken von 9,58 und 19,19 Sekunden wie in Stein gemeißelt scheinen, hat nach Verletzungsproblemen fast die gesamte Saison 2014 verpasst — 2015 dürfte er auf den wohl stärksten Gegner seiner Karriere treffen. "Es wird ein großartiges, spektakuläres Rennen", sagt Herausforderer Gatlin. Oder im schlimmsten Fall ein weiteres medizinunterstütztes Schmierentheater.