Bekoji/Äthiopien Mein Training mit den Wunderläufern

Bekoji/Äthiopien · Philipp Hedemann lebte als Korrespondent über drei Jahre in Äthiopien. Dort trainierte er mit den Athleten von Bekoji. Coach Sentayehu Eshetu konnte bei unserem Autor allerdings überhaupt kein Talent für die Langstrecke entdecken.

Ich höre nur das federleichte, gleichmäßige Getrippel von etwa vierzig Turnschuhen und das asthmatische, immer schneller werdende Pfeifen meines eigenen Atems. Die anderen zwanzig Läufer höre ich nicht nach Luft schnappen, ihr Atem geht so ruhig, als wären sie im Tiefschlaf. Es ist kalt. Die fahle Morgensonne zeichnet lange, sich schnell und geschmeidig bewegende Schatten auf die taufrische Wiese. Die Schatten bleiben dicht beieinander, nur meiner wird immer langsamer, fällt weiter zurück, bald verliert er den Anschluss, schließlich bleibt er bebend stehen, lehnt sich nach vorne, stützt sich mit den Händen auf den Knien ab und kippt oberhalb der Kleinstadt Bekoji um. Mein Herz hämmert, das Blut rauscht im Kopf, tausend Nadeln stechen in meiner Lunge, mir ist kotzübel, auf meiner Stirn steht kalter Schweiß.

Die Luft ist dünn. Auf 2500 Metern Höhe habe ich mich mit Leuten eingelassen, die eindeutig nicht meine Kragenweite sind. Auf einer Wiese außerhalb von Bekoji habe ich versucht, mit rund 150 jungen Läufern zu trainieren. Die Olympiasieger Kenenisa Bekele, Tirunesh Dibaba und Derartu Tulu kommen aus dem verschlafenen Bergnest. Sie alle wurden von Sentayehu Eshetu entdeckt. In Bekoji nennen sie ihn nur "Coach". Als ich mit geschlossenen Augen hustend im Gras liege, fragt Coach mich: "You are okay?" "Yes", japse ich mit Schnappatmung. Es ist eine Lüge. Okay fühlt sich anders an.

Dabei sah es am Anfang ganz leicht aus. Bis ich begriff, dass das, was für mich bereits Hochleistungssport war, für die Jungs und Mädchen neben, vor und hinter mir, nur ein paar lockere Aufwärmrunden waren. Kurz nachdem sie auf ein Zeichen ihres Trainers das Tempo anzogen, fiel ich ins Gras. Als ich wieder zu Atem gekommen bin, bin ich alleine. Die anderen Läufer sind mittlerweile zu einer höher liegenden Wiese gelaufen oder, besser gesagt, gerannt. Mit seiner Pfeife und dem leichten Bauchansatz sieht der Mann mit der roten Schirmmütze und dem blauen Trainingsanzug eher wie einer meiner Sportlehrer aus der Schule und nicht wie der wohl größte Talentscout der vielleicht größten Laufnation der Welt aus.

Coach macht sich keine Notizen, nimmt nicht mit einer Sportlehrer-Stoppuhr die Zeit, doch seinem Blick und seinem Instinkt entgeht kein Detail: Wie ist Merons Antritt? Wie groß sind Tewoldes Schritte? Wie schnell kommt Mekonnen nach dem Sprint wieder zu Atem? Jeden Morgen und jeden Nachmittag beobachtet Coach seine Schützlinge beim Training. Er sieht ihre Muskeln, er sieht ihre Sehnen, er sieht ihren Herzschlag. Doch er sieht auch das, was andere nicht sehen können. Er hat gelernt, in die Köpfe seiner Läufer zu schauen. "Nur wenn Beine, Herz und Kopf zueinander passen, kann jemand es nach ganz oben schaffen", sagt Coach.

Dibabe ist so eine, bei der alles stimmt. Seit drei Jahren trainiert die Fünfzehnjährige mit Coach. "Wenn Gott und Coach mich nicht im Stich lassen, kann ich eines Tages so schnell, so berühmt und so reich wie Haile Gebrselassie werden", erzählt Dibabe nach dem Training.

Wie die meisten ihrer Freunde quält sie sich zweimal am Tag und folgt den Anweisungen des Trainers bedingungslos, um der Armut eines Tages davonzulaufen. So, wie Haile Gebrselassie, der vor 40 Jahren im nur fünfzig Kilometer entfernten Asela als eines von zehn Kindern eines Bauern geboren wurde. Laufen ist in Äthiopien Religion, und Haile Gebrselassie ist der Prophet. Jeden Tag musste der kleine Haile zehn Kilometer zur Schule laufen, zehn Kilometer zurück. Jeden Tag ein Halbmarathon. Zum Gehen fehlte Haile die Zeit, schließlich erwarteten seine Eltern, dass er nach der Schule auf dem Feld half. Bald merkte Haile, dass er schneller als all seine Klassenkameraden war.

1993 gewann er als Zwanzigjähriger bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Stuttgart über zehntausend Meter Gold. Bei den Olympischen Spielen in Atlanta (1996) und Sydney (2000) gewann er über die gleiche Distanz jeweils olympisches Gold, insgesamt stellte er sechsundzwanzig Weltrekorde auf. Und noch immer erinnert die Haltung seines linken Armes daran, dass seine Karriere auf dem Schulweg begann. Mit den Schulbüchern unterm Arm.

Jetzt gewinnt eine jüngere äthiopische Generation die Medaillen für die große Laufnation, einige der zukünftigen Olympiasieger und Weltmeister dehnen sich nach dem Training wahrscheinlich gerade neben mir auf der Wiese in Bekoji. Haile ist mittlerweile einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner des Landes. Er besitzt unter anderem das Fitnessstudio, in dem auch ich trainiert und ihn getroffen habe. Als ich einmal auf dem Laufband neben ihm lief, sagte er mir: "Nicht schlecht. Wenn du fleißig weiter trainierst, wirst du bald eine passable Marathonzeit laufen." Ich bin froh, dass er mich nicht beim Training in Bekoji gesehen hat.

Nachdem Coach das Morgentraining beendet hat, lade ich ihn in ein unscheinbares Hotel ein. Kenenisa Bekele hat es in seiner Heimatstadt gebaut. "Er hat zwar dieses Hotel eröffnet, aber bei mir hat er sich nie richtig bedankt. Genau wie die anderen, die ich entdeckt habe", sagt Coach. Es klingt nicht verbittert, nur ein bisschen enttäuscht. Coach, der im Monat umgerechnet knapp 78 Euro verdient, will keinen Anteil an den Millionen, die die von ihm entdeckten Talente gescheffelt haben, nur ein bisschen Anerkennung. Doch eigentlich will er von Bekojis Talenten erzählen. Wie kommt es, dass so viele gute Läufer aus Bekoji kommen? "Die gute Luft, die vielen Vorbilder und die gute Gerste machen unsere Läufer stark", sagt er. Doch gute Luft, Vorbilder und Gerste gibt es auch anderswo in Äthiopien, Coach gibt es nur in Bekoji.

(RP)
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