Sportfreudiges und sportfreundliches Klima fehlt Der Abstieg der Sportstadt Neuss

Neuss · Neuss hat 160.000 Einwohner, stellt aber erstmals seit Jahrzehnten in keiner Sportart einen Bundesligisten. Fußball wird nur siebtklassig gespielt – und jetzt droht auch der Galopprennbahn nach 141 Jahren das finanziell bedingte Aus.

 Rafael Nadal hat einst für Blau-Weiss Neuss in der Tennis-Bundesliga gespielt.

Rafael Nadal hat einst für Blau-Weiss Neuss in der Tennis-Bundesliga gespielt.

Foto: privat/-woi/Horstmüller

Neuss hat 160.000 Einwohner, stellt aber erstmals seit Jahrzehnten in keiner Sportart einen Bundesligisten. Fußball wird nur siebtklassig gespielt — und jetzt droht auch der Galopprennbahn nach 141 Jahren das finanziell bedingte Aus.

Ein Mal im Jahr macht der große Sport in Neuss Station - drei Tage nach Zielankunft der Tour de France beim Radrennen mit dem griffigen Titel "Tour de Neuss", dessen Siegerliste illustre Namen wie Jens Voigt, Erik Zabel, Tony Martin und André Greipel zieren. Ansonsten herrscht 364 Tage lang sportliche Tristesse in der 160.000-Einwohnerstadt, die erstmals seit drei Jahrzehnten keinen (Erst-) Bundesligisten in irgendeiner Sportart mehr ins Punkterennen schickt - und damit wohl ein Alleinstellungsmerkmal in Deutschland besitzt.

Früher war das anders. Der TC Blau-Weiss Neuss ist mit zehn Titeln immer noch Rekordmeister der Tennis-Bundesliga, deutsche Daviscup-Helden wie Eric Jelen und Michael Westphal, aber auch spätere Weltranglisten-Erste wie Gustavo Kuerten oder Rafael Nadal schlugen für die Neusser auf. Im Hockey bedeutete der HTC Schwarz-Weiß eine feste Größe in der Bundesliga, den Herren um Ex-Weltmeister Sebastian Draguhn und den mit Nationalspielerinnen gespickten Damen gelang mehrfach der Sprung in die Endrunde. Auch die Ringer vom KSK Konkordia gehörten anderthalb Jahrzehnte zum festen Inventar der Bundesliga, kämpften einst im DM-Viertelfinale vor ausverkauftem Haus gegen Traditionsklub VfK Schifferstadt.

Aus und vorbei. Blau-Weiss tritt nach dem Tod seines langjährigen Mäzens in der Zweiten Liga an, ebenso die Hockeyherren, während die Damen dabei sind, sich aus der untersten Spielklasse langsam nach oben zu arbeiten. Die Ringer, bundesweit für ihre Nachwuchsarbeit gerühmt und mit dem "grünen Band" prämiert, treten in der Oberliga auf der Stelle. Fußball wird in Neuss übrigens auch gespielt, doch über die siebtklassige Bezirksliga kommen die viel zu vielen Klubs - 16 nehmen am Spielbetrieb teil - längst nicht mehr hinaus.

Die Gründe sind unterschiedlich. Mal fehlt das Geld, mal die (personellen) Strukturen, mal die geeignete Sportstätte. Die Ursache ist aber bei allen die gleiche: Im Spannungsfeld zwischen dem alles überstrahlenden Bürger-Schützenfest, christlich-sozialem Engagement und einem in Relation zur Einwohnerzahl reichen Kulturangebot spielt der Sport im gesellschaftlichen und politischen Leben der Stadt nur eine untergeordnete Rolle. "Wenn du bei einem Sponsor anklopfst, waren die anderen alle schon da" - dieser Stoßseufzer ist so oder so ähnlich im Gespräch mit jedem Neusser Sportfunktionär zu hören.

Das Problem: Nur die mitgliederstärksten Vereine können sich hauptamtliche Kräfte für Organisation und Marketing leisten, doch ausgerechnet die haben sich überwiegend dem Breiten- und Gesundheitssport verschrieben. Um die Vermarktung des Leistungssports kümmern sich Ehrenamtler - und treffen im Verteilungskampf um Sponsorengelder zunehmend auf "Profis", die für Verbände oder Träger von sozialen und kulturellen Einrichtungen auf Sponsorensuche gehen. "Und die Firmen verlangen heute fast immer ein schriftliches Konzept, am besten als Powerpoint-Präsentation", stöhnt ein Vereinsvorsitzender, "wer soll das denn ehrenamtlich alles leisten?"

Schwierigkeiten, mit denen der Leistungssport auch anderswo zu kämpfen hat. Doch in Neuss treten sie potenziert auf, weil ein sportfreudiges und sportfreundliches Klima fehlt. Da passt ins Bild, dass der Fortbestand der Galopprennbahn, deren Kombination aus Gras- und Sandbahn mit einer Flutlichtanlage es so in Deutschland nicht noch einmal gibt, nach 141 Jahren auf der Kippe steht. Der Reiter- und Rennverein sieht sich außerstande, die jährliche Pacht in Höhe von 100.000 Euro an die städtische Marketinggesellschaft als "Besitzerin" des innerstädtischen Rennbahnareals zu bezahlen - die neun Winterrenntage zwischen Oktober und März hängen am finanziellen Tropf des französischen Wettgiganten PMU, der sie live ins westliche Nachbarland überträgt.

Tristesse, wohin man schaut. Wenigstens der Neusser Handballverein (NHV) sorgt sportlich für Aufbruchstimmung, indem er als ungeschlagener Drittliga-Tabellenführer vernehmlich ans Tor zur Zweiten Liga klopft. Nur: Weil es in Neuss keine bundesliga-taugliche Halle gibt, flirtet er zur Zeit heftig mit einer Spielgemeinschaft mit dem ART Düsseldorf und einem (Teil-) Umzug in die Landeshauptstadt.

So freuen sich die Neusser auf "ihr" Radrennen, das bis zu 20.000 Zuschauer anlockt. Weil die zweite Etappe der Tour de France auf dem Weg von Düsseldorf nach Lüttich auch durch Neuss rollt, können sie ihre Helden gleich zwei Mal sehen. Das Geld für die Bewerbung brachte eine Privatinitiative auf - der Stadtrat hatte eine städtische Beteiligung abgelehnt. Noch Fragen?

(RP)
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