Kritik an Olympiasieger Harting "Für dieses Verhalten schäme ich mich in Deutschland am TV"

Rio de Janeiro · Der neue Olympiasieger pfiff auf die Etikette und vor allem auf die Hymne. Als bei der Siegerehrung die deutsche Fahne für Christoph Harting hochgezogen wurde, irritierte der neue Olympiasieger im Diskuswerfen viele Zuschauer mit seinem Verhalten.

Twitter-Kritik an Hartings Verhalten
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Während der Siegerehrung verschränkte er die Arme vor der Brust, pfiff vor sich hin und tanzte. Für Harting scheinbar alles kein Problem. "Ich bin ein Mensch, der Rhythmus braucht, der Rhythmus liebt, der gute Musik über alles schätzt", sagte Christoph Harting und ergänzte: "Es ist schwer, zur Nationalhymne zu tanzen, habe ich festgestellt." Aussagen wie diese und sein Verhalten zuvor aber irritierten selbst Harting nahe stehende Menschen wie seinen Trainer Torsten Lönnfors: "Keine Ahnung, was das sollte, ich verstehe es nicht. Christoph muss aufpassen, dass er jetzt nicht frei dreht", sagte er der "Bild".

Olympia 2016: Christoph Harting tanzt bei der Siegerehrung
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Christoph Harting tanzt bei der Siegerehrung

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Es waren einige der wenigen Sätze, die Christoph Harting sagte. Und so ließ er Gesten und Posen sprechen. Nach seinem in der Tat sensationellen Wurf zu Diskus-Gold, mit dem er sich zum Nachfolger seines Bruders Robert kürte, versuchte er mit aufreizender Lässigkeit und irritierender Überheblichkeit, das Publikum zum Jubeln zu animieren. Er deutete an, sich wie sein Bruder das Trikot zu zerreißen - und beließ es dann doch dabei, sich in die deutsche Fahne zu hüllen.

Kritik für seinen Auftritt bei der Siegerehrung erhielt Harting auch aus dem Leichtathletik-Lager. "Gold im Diskus ist echt super geil!!! Aber für dieses Verhalten schäme ich mich in Deutschland vor dem TV!", schrieb Sebastian Bayer, früherer Hallen-Europameister und Freiluft-Europameister im Weitsprung, am Samstag auf seiner Facebook-Seite. "Sorry aber dann würde ich lieber auf diese Medaille verzichten...."

Hartings Vater verteidigte das Verhalten seines Sohnes. "Wir haben die Siegerehrung auf der Großleinwand mitverfolgt. Das ist Christoph und seine Art, Erfolge zu feiern", sagte Gert Harting am Samstag in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. "Christoph will seinen Spaß haben", sagte Gert Harting. "Das hat man ja auch bei der Vorstellung der Athleten gesehen, als Christoph bis zuletzt der Musikgruppe zugehört hat. Da hat man ihn total authentisch erlebt."

"Hey kleiner Bruder", schrieb Robert Harting bald danach bei Facebook, "der Generationenwechsel ist eingeleitet. Ich freue mich extrem für dich. Du hast einen klaren Harting im letzten Versuch gezeigt." Der klare Harting im letzten Wurf war die Weltjahresbestleistung von 68,37 Meter, damit stellte Christoph Harting das Klassement völlig auf den Kopf. Weltmeister Piotr Malachowski aus Polen (67,55) konnte nicht mehr kontern, ihm blieb Silber.

Kein Interview für das ZDF

Dass Daniel Jasinski aus Wattenscheid ebenfalls im letzten Wurf noch mal einen rausgehauen hatte und mit 67,05 Meter Bronze gewann, wurde durch das Verhalten von Christoph Harting ebenso in den Schatten gestellt wie dessen eigene grandiose Leistung. Dem ZDF verweigerte er hernach ein Interview, "das ist", sagte Sportchef Dieter Gruschwitz, "ein einmaliger Vorgang und besonders bedauerlich für die vielen Fans vor dem Fernseher".

Die Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, Dagmar Freitag, sagte, sie habe die Szenen nicht gesehen. Sie betonte jedoch, man dürfe erwarten, dass sich bei Olympischen Spielen "die Athletinnen und Athleten auch als Repräsentanten unseres Landes erweisen".

Kritik von Vesper und Hörmann

Olympia 2016: Christoph Harting jubelt über Gold
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Christoph Harting jubelt über Gold

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Der deutsche Chef de Mission Michael Vesper bezeichnete es fünfeinhalb Stunden später als "nicht gut", was Harting bei der Siegerehrung gezeigt habe. "Er ist Teil unserer Mannschaft und Botschafter unseres Landes. Wenn er die Bilder anschaut, wird er das sicher einsehen", sagte er.

Ähnlich äußerte sich DOSB-Präsident Alfons Hörmann. "Wenn er es selber ansieht, wird er erkennen, dass er sich mehr Ruhe und Konzentration hätte gönnen müssen", sagte Hörmann dem SID am Samstagabend im Deutschen Haus von Rio. "Ich habe aber auch Verständnis für einen Athleten, der im Überschwang seiner Gefühle bei seinem größten Erfolg sich nicht so gibt, wie man es sich wünschen würde", ergänzte er.

Christoph Harting lässt Rio-Skulptur bei Siegerehrung fallen
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Harting lässt Rio-Skulptur bei Siegerehrung fallen

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Man sehe, dass man "innerhalb einer Familie einen unterschiedlichen Weg gehen kann. Das scheint bei den Hartings klassisch der Fall zu sein", sagte Hörmann mit Blick auf den im Vergleich zu seinem Bruder eher extrovertierten London-Olympiasieger Robert Harting.

Robert Harting hatte begeistert auf der Tribüne geklatscht, als sich der kleine, in Wahrheit aber sechs Zentimeter größere Bruder unten als der große Sieger inszenierte. Die sportliche Ehre der Familie war 24 Stunden nach dem Quali-Desaster von Robert Harting wiederhergestellt, den schier unglaublichen deutschen Erfolg am frühen Morgen perfekt machte Jasinski, der sagte: "Ja Wahnsinn, ich freue mich riesig, das war der beste Wettkampf meines Lebens, auf den Punkt."

Der Olympiasieger wollte erst nicht - reden wie schon die ganze Saison. "Mahlzeit", rief er durch die Gänge des Olympiastadions, dann war er schon wieder verschwunden. Dem ARD-Hörfunk sagte er nur: "Ich bin kein Medienmensch, ich bin keine Kunstfigur, ich bin Sportler und lasse meine Leistung sprechen.

Seine Selbstinszenierung nach dem Gold passte nicht unbedingt zu dieser Aussage, aber: Die Leistung sprach Bände. Bis zum sechsten Durchgang hatte Weltmeister Malachowski geführt und Martin Kupper (Estland/66,58) auf Rang zwei gelegen. Dann aber schlugen die beiden Deutschen zu. Selbst Robert Harting war verblüfft. "Christoph hat eine Medaillenchance. Aber Gold ist eigentlich nicht drin", hatte er vor Wettkampfbeginn dem ZDF gesagt.

So kann man sich täuschen. Am Ende holte der kleinere Harting seine erste Medaille bei einer großen Meisterschaft, aber sie schien ihm nichts wert. Nach der Siegerehrung nahm er sie sofort vom Hals, wog sie kurz in der Hand und wirbelte sie am Band durch die Luft - dauergrinsend.

(sb/sid)
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