Sotschi Wie Russland Behinderte diskriminiert

Sotschi · Die Gastgeber liegen im Medaillenspiegel der Paralympics klar vorn. An gesellschaftlicher Anerkennung fehlt es aber.

Paralympics 2014 in Sotschi: Die Eröffnungsfeier
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Paralympics 2014 in Sotschi: Die Eröffnungsfeier

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Foto: dpa, sc mr

Die Paralympics werden in mehr als fünfzig Ländern übertragen. Millionen Fernsehzuschauer nehmen die Spiele als Sportpropaganda wahr, im Land eines Aggressors. In Russland sieht das anders aus: Nie waren die Weltspiele des Behindertensports im Fernsehen gezeigt worden, nun übertragen drei Stationen 180 Stunden. Präsident Wladimir Putin möchte diese Steigerung als Wandel verstanden wissen. "Das Eis brechen", so lautete der Slogan der Eröffnungsfeier.

Die Stimmung in Sotschi ist gut. Der Ticketverkauf läuft besser, als die Organisatoren erwartet haben. Viele Sportler und Funktionäre sind zufrieden, sie haben kurze Wege, werden freundlich empfangen. Mängel bei den Bauten haben die Russen zügig behoben, mit Holzrampen und Gummibezügen. Aber kann ein zehntägiges Sportereignis in einem weiträumig abgesperrten Gebiet am Schwarzen Meer auf das größte Land der Welt ausstrahlen?

Paralympics 2014: Schaffelhuber holt Gold in der Abfahrt
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Foto: dpa, jst fdt

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es 13 Millionen Russen mit einer Behinderung, neun Prozent der Bevölkerung. Die Regierung hat 2011 ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um ihre Gesundheitsversorgung und Förderung zu verbessern. Human Rights Watch lobt diese Bemühungen, doch die Menschenrechtsorganisation weist in einer Studie auf die unterschiedliche Umsetzung in den Regionen hin. Der Titel des Berichts: Barriers everywhere, Hindernisse sind überall. Noch immer sind die meisten Menschen mit Behinderung in Russland von der Gesellschaft ausgeschlossen. Durch fehlende Infrastruktur wie Rampen, Fahrstühle, Orientierungshilfen — und durch ein Jahrzehnte gewachsenes Überlegenheitsdenken.

Eine Behinderung wird oft als Krankheit wahrgenommen. Drei Millionen Versehrte waren nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zurückgekehrt, in der kommunistischen Heldenpropaganda war für sie kein Platz. 1980 fanden die Sommerspiele in Moskau statt. Die Sowjetunion weigerte sich, auch die Paralympics zu organisieren. Laut Parteichef Leonid Breschnew gab es keine Behinderten, die Spiele wurden nach Arnheim verlegt. Erst unter Michail Gorbatschow durften behinderte Menschen 1987 im Fernsehen gezeigt werden.

Die Behörden betrachten es noch immer als Tradition, behinderte Kinder oder Erwachsene in spartanischen Heimen unterzubringen. Human Rights Watch hat Dutzende Fälle von Diskriminierung recherchiert. Menschen mit Behinderung wurde der Zugang verwehrt, zu Bussen, Flugzeugen, Restaurants. Ärzte haben Frauen zu Abtreibungen gedrängt. Nur zwanzig Prozent im berufsfähigen Alter haben eine Anstellung gefunden.

Philip Craven, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), wünscht sich positive Erfahrungen durch die Paralympics. Die Zuschauer erleben nun, wie russische Athleten mit einer Behinderung eine Goldmedaille nach der anderen gewinnen und die Nationenwertung souverän anführen. Human Rights Watch versucht, über den bloßen Party-Charakter hinauszublicken. Die Organisation hat ihre Recherchen auch dem IPC vorgestellt, von der Resonanz waren die Menschenrechtler enttäuscht.

In den Monaten vor den Paralympics waren kaum Berichte über behinderte Sportler zu sehen. Auf einem Werbeplakat reckt die Schwimmerin Olesya Vladykina ihren rechten Arm jubelnd in die Höhe. Sie ist so positioniert, das man ihre Amputation auf der linken Seite nicht erkennen kann.

(RP)
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