Zwischen Begeisterung und Ablehung Die Deutschen und die Tour

Düsseldorf · Deutschland ist für die Radsportindustrie der wichtigste Markt. Zu einem Radsportland ist es dennoch nicht geworden. Die große Skepsis gegenüber der Disziplin verhindert kindliche, vorbehaltlose Freude.

Chris Froome verteidigt Gelbes Trikot im Zeitfahren
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In Düsseldorf drängen sich an einem verregneten Samstag im Juli 500.000 Menschen an den Straßen der Stadt, weil in kurzen Abständen Radprofis beim Zeitfahren vorbeirauschen. Der Jubel ist so laut, dass der deutsche Sprintspezialist Marcel Kittel im Ziel strahlend bekennt: "Ich dachte, mir fallen die Ohren ab." Zum ersten Mal startet die Tour de France, das größte Radrennen der Welt, in Düsseldorf. Und nicht nur dort schlägt dem Tross Begeisterung entgegen. Auch in den Städten, die das Feld bei der Ausreise Richtung Belgien berührt, in Neuss, Mettmann und Mönchengladbach, werden Volksfeste gefeiert. Deutschland schaut wieder hin bei der Tour. Ist es deshalb ein Radsportland? Eher nicht. Es lohnt sich, dazu 20 Jahre zurückzublicken.

Der Sommer 1997 ist bei Schlagerfreunden durch seltsame Buchstaben-Kombinationen in Erinnerung. Große Hits landen die Band Hanson mit "Mmm Bop" und der Rapper Coolio mit "C U When U Get There". Deutschlands Sportfans haben einen anderen Sommer-Hit. Er heißt Tour de France.

Das liegt an einem pausbäckigen, etwas mundfaulen Mecklenburger namens Jan Ullrich. Der Rostocker ist 23, und er gewinnt die Rundfahrt durch Frankreich. Er ist der erste Deutsche, dem das gelingt. Und er entfacht eine geradezu hysterische Begeisterung für den Radsport. 40 Prozent der Bundesbürger interessieren sich einer repräsentativen Umfrage zufolge plötzlich sehr dafür, wie 198 Athleten in drei Wochen 3500 Kilometer hinter sich bringen. Ein bisschen genauer: Sie interessieren sich brennend dafür, wie Jan Ullrich die Etappen bewältigt.

Deutschland, das in dieser Hinsicht bis dahin nicht aufgefallen ist, fühlt sich an wie ein Radsportland, das über Streckenprofile so gern diskutiert wie über Ullrichs kleinen Ranzen, den er sich in jedem Winter anfuttert. Es ist ein bisschen so wie bei Boris Becker, der mit seinem Wimbledon-Sieg eine Tennis-Welle losgetreten hat. Die Welle verebbt, weil den Deutschen die Helden Becker und Steffi Graf eines Tages ausgehen. Und die Radsportbegeisterung kippt ins komplette Gegenteil, als die Deutschen begreifen, warum die Frankreich-Rundfahrt bei Kritikern als rollende Apotheke gilt. Im schlimmsten Doping-Sumpf der beginnenden 2000er Jahre fällt auch Ullrich vom Sockel. Seine deutschen Fans strafen ihn mit Liebesentzug und die Tour gleich mit. 2006 geben nur noch 20 Prozent der Deutschen an, sich für das größte Radsportereignis der Welt zu interessieren. 2014 sind es 19 Prozent.

Zwischendurch haben die öffentlich-rechtlichen Sender die gründlich dopingverseuchte Tour mit einem Übertragungsboykott belegt - auch die ARD, die zu Ullrichs Hochzeiten Sponsor des deutschen Telekom-Teams ist.

So hysterisch die Begeisterung ausgefallen ist, so hysterisch ist die Ablehnung. Erst langsam kehren die deutschen Sportfans zur Tour zurück - und mit ihnen die ARD. Dennoch fassen viele den Radsport nun mit spitzen Fingern an. Der Generalverdacht des Dopings fährt mit, die deutsche Begeisterung ist eine Begeisterung unter Vorbehalt. Radsport steht unter Bewährung, denn die deutschen Sportfans haben ihr Potenzial an moralischer Entrüstung für den Radsport reserviert.

Keine andere Disziplin überziehen sie mit derartiger Skepsis. Die hat sich der Radsport zwar verdient. Denn es ist schwer vorstellbar, wie jemand in bemerkenswert hohem Tempo kilometerlange Anstiege, die ein Auto kaum im ersten Gang schafft, ohne medizinische Hilfsmittel bewältigen soll. Ebenso schwierig aber ist zu begreifen, wie Menschen 100 Meter knapp über neun Sekunden laufen können, ohne dass ihnen Hilfen zuteil werden, die über eine gut ausgewogene Kost hinausgehen. Dass vor zwei Jahren der Weltrekordler Usain Bolt der einzige unter den zehn besten Sprintern auf dem Globus ist, den noch keine Dopingsperre ereilt hat, bringt jedenfalls keine Boykottbewegung in Gang.

"Eine erwachsene Beziehung zur Tour de France"

Schwere Dopingfälle hat es bei der Tour länger nicht mehr gegeben. Deswegen zu behaupten, "der Radsport ist zu 98 Prozent sauber", wie es der deutsche Profi Tony Martin tut, ist trotzdem sehr gewagt. Das finden wohl auch die meisten Sportfans, und das ist eine Erklärung dafür, warum die Begeisterung für die Tour 2017, die an diesem Sonntag endet, keinen Vergleich zur Begeisterung für die Tour 1997 aushält. Renndirektor Christian Prudhomme hat ein sehr anschauliches Bild für die deutsche Haltung. "Die Deutschen", sagt er, "haben eine erwachsene Beziehung zur Tour de France entwickelt." Kindliche, vorbehaltlose Freude hat da keinen Platz.

Der zweite Grund für die eher vornehme Betrachtung der Tour: Die Deutschen brauchen Helden, um sich für eine Sportart zu erwärmen. Sieger, die stellvertretend für das Land gewinnen, Menschen, die über den Sport hinauswachsen. Die deutschen Fans neigen zur Verklärung, weniger zu fachlicher Begeisterung. Darin unterscheiden sie sich von traditionellen Radsportländern wie Spanien, Frankreich, Italien oder den Beneluxstaaten. Dort wird der Hype um Ullrich ebenso erstaunt zur Kenntnis genommen wie die deutsche Entrüstung über Doping. Die tiefe Abneigung der Jahre 2006/07 finden Franzosen, Holländer und Italiener moralinsauer - typisch deutsch eben.

Es ist ein kurioser Zufall, dass Deutschland zwar immer noch kein Radsportland ist, dafür aber der wichtigste Markt für die Radsportbranche. Die Kaufleute sehen die Tour übrigens wie die Fans. "Der Radsport", sagte der Sportrechtsexperte Hans Mahr dem "Handelsblatt", "ist wieder interessanter geworden. Aber es fehlen die großen Stars wie Jan Ullrich. Über solche Persönlichkeiten konnte man den Sport vermarkten." Auch hier geht es also um Helden. Typisch deutsch.

(pet)
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