Erinnerungen eines Reporters Meine Tour mit Didi Thurau

Frankfurt · 1977 ist die Arbeit als Journalist bei der Tour de France vor allem eins: ein Abenteuer. Erinnerung an drei Wochen als Rallye-Fahrer, Cola-Lieferant und Telefonzellen-Diktierer.

 Reporter Hartmut Scherzer (39) interviewt während der Tour de France 1977 in enger Schlaghose und luftig geknöpftem Hemd Didi Thurau, der als damals 22-Jähriger 15 Tage lang das Gelbe Trikot des Gesamtführenden verteidigen konnte. Das Foto stammt aus Scherzers Archiv.

Reporter Hartmut Scherzer (39) interviewt während der Tour de France 1977 in enger Schlaghose und luftig geknöpftem Hemd Didi Thurau, der als damals 22-Jähriger 15 Tage lang das Gelbe Trikot des Gesamtführenden verteidigen konnte. Das Foto stammt aus Scherzers Archiv.

Foto: privat

Tour-Reporter fühlten sich einst wie Rallye-Raser zwischen Radrennfahrern. So abenteuerlich und nervenaufreibend war es vor 40 Jahren, das Peloton der 64. Tour de France zu begleiten. Nur ein akkreditiertes deutsches Auto, ein "gesponsorter" Toyota-Cressida Automatik, mit drei Journalisten hatte sich seit dem Start in dem Nest Fleurance in der Gascogne in den Konvoi eingereiht. Die tägliche Sportzeitung "L'Équipe" und ihre Redakteure, angeführt vom legendären Chefredakteur Jacques Goddet und dessen Stellvertreter Félix Lévitan als "Directeurs", organisierten damals, im Sommer 1977, das gigantischste Radrennen der Welt über 22 Etappen und 4096 Kilometer mit einem gewissen Didi Thurau 15 Tage lang im Gelben Trikot.

Um mitzubekommen, was abging, musste ein Funkgerät installiert sein. Die Reichweite des Tour-Funks: fünf Kilometer. "Commissaires" vor und hinter dem Feld teilten die Nummern der Fahrer (100 gestartete in zehn Mannschaften) mit, die ausgerissen oder abgehängt waren. Gesprochene französische Zahlen sind bekanntlich Rechenaufgaben. Quatre-vingt-huit, 4x20+8, ergibt 88 - die Nummer Thuraus. Helmer Boelsen auf dem Beifahrer- und Ulfert Schröder auf dem Rücksitz, zwei Tour-Routiniers seit Rudi Altigs Zeiten, waren fürs Aufschreiben zuständig. Ich saß als grüner Tour-Neuling am Lenkrad, war sozusagen der Walter Röhrl.

In halsbrecherischem Tempo mit quietschenden Reifen jagten wir auf lebensbedrohlichen Serpentinen die "Cols" hinunter. Radrennfahrer sind todesmutige Abfahrer, die sich mit Tempo 80 von Gipfeln hinunterstürzen. Wehe, wenn ihnen ein zu langsames Auto in die Quere kommt. Von der Passhöhe des Tourmalet den Ausblick genießen, wie die Schlange der bunten Trikots durch das Spalier eng geparkter Autos und dicht gedrängter Zuschauer hinaufkroch, war ein Luxus, den wir uns nur noch selten gönnten. Aber man wollte ja schließlich nicht nur hören, sondern auch sehen, was passiert. "Ils arrivent." Sie kommen - höchste Eile, in den Wagen zu springen und davonzubrausen.

Beim Hinterherzuckeln in der Karawane galt: Rechts die Mannschaftswagen, links die Pressefahrzeuge. Die schmalen Straßen zwischen Felswänden und Abgründen, zumal bei Regen, verursachten Schweißausbrüche. Die Adrenalin-Momente: die Spitzengruppe oder das Feld passieren, um vor ihnen das Etappenziel zu erreichen. Im Reißverschlussverfahren, den Fuß zwischen Gaspedal und Bremse pendelnd, die Hand ständig auf der Hupe, wurde der Auto-Konvoi von hinten aufgerollt, bis nur noch die unberechenbaren Herren der Landstraße den Weg versperrten. Warten auf den Wink aus dem offiziellen Tour-Auto an einer günstigen Stelle - und mit Vollgas vorbei.

Nach so einem Hasardeur-Manöver fiel einem ein Stein vom Herzen, trocknete der Stress-Schweiß auf der Stirn. Nach sechs Stunden am Steuer endlich freie Fahrt in den "Salle de Presse", um nach den Geprächen mit den "Coureurs" hinterm Ziel den Bericht zu schreiben. Fernschreiber schickten per Telex-Lochstreifen den Text an die Zeitung. Die Eintragungen ins tägliche Tour-Tagebuch mussten unterwegs - weit voraus und ohne Funkkontakt - aus Telefonzellen an die Aufnahmen daheim durchgegeben werden. Episoden wie diese:

"Vor Didi Thurau, seit zwei Tagen ohne Gelbes Trikot, erhebt sich drohend die Wand von Alpe d'Huez. Der deutsche Jungstar ist abgehängt. Allein kämpft er sich durch die sengende Hitze. Getrockneter Speichel klebt auf den Lippen. Durst quält ihn. 'Gebt mir 'ne Cola!' krächzt er. Ulfert will schon eine Büchse durchs Autofenster reichen. 'Uli, wenn das ein Commissaire sieht, fliegen wir aus der Tour.' Ich stoppe die Hilfsaktion. Ulfert ruft aus dem Fenster: 'Didi, den ersten Zuschauern in der ersten Kurve geben wir ein paar Büchsen für dich.' Die Getränkeversorgung hat geklappt. Thurau und die Tour '77 sind ein Musterbeispiel für die Verwahrlosung journalistischer Sitten. Vor dem Start gab der Frankfurter Bub, unbedarft, unverdorben, unbezahlt, sein Konterfei im Meistertrikot für die Plakatwerbung der Frankfurter Boulevard-Zeitung frei: 'Mit der Abendpost/Nachtausgabe bin ich immer gut gefahren.' In der ersten Woche in Gelb bricht in Deutschland der Tour-Taumel aus. ,Bild', die sich über den Prolog-Sieg noch lustig gemacht hatte, schickt einen Reporter, der hinter dem neuen deutschen Helden her hechelt, 500 Mark für täglich ein paar Fragen und Antworten bezahlt. Der ,Stern' reist mit einem 20.000-Mark-Angebot für ein Interview an. Nicht nur Thurau macht erstmals die Erfahrung mit dem Scheckbuch-Journalismus. Dennoch: Wir bleiben auch so weiterhin am nächsten dran, obwohl Didi von uns nicht einmal eine Cola gekriegt hat."

Heute könnte ein Journalist sich für die drei Wochen irgendwo in Frankreich bequem niederlassen und die Tour de France dennoch spannend beschreiben. Live-Übertragungen im Fernsehen, Live-Ticker vom Renngeschehen, Live-Videos von Pressekonferenzen und Einzelinterviews, Twitter, Facebook und Co. - sie haben den Reiz des Rallye-Abenteuers, die Romantik des Schreibmaschinen-Geklappers und der analogen Telefon-Diktate beerdigt.

Unser Autor (79) berichtet seit Jahrzehnten von Olympischen Spielen, Fußball- und Box-Weltmeisterschaften. Und natürlich von der Tour de France.

(RP)
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