Wimbledon-Siegerin Bartoli Die etwas andere Tennis-Heldin

Marion Bartoli erfüllte sich mit dem überraschenden Wimbledonsieg einen Kindheitstraum. Die eigenwillige Französin hat schwere Zeiten hinter sich und ist nach Meinung von John McEnroe eine Inspiration für Millionen Menschen.

Die letzten Sekunden ihrer wundersamen Reise auf dem heiligen Rasen erlebte Marion Bartoli wie in Zeitlupe. "Alles lief ganz langsam vor meinen Augen ab. Ich sah den Ball fliegen, dann den Staub der Linie aufsteigen. Es war ein Ass, und ich wusste: Ich habe Wimbledon gewonnen", berichtete die etwas andere Tennis-Heldin aus Frankreich nach ihrem 6:1, 6:4-Finalsieg über Sabine Lisicki (Berlin).

"French Queen" Bartoli

Bartoli ging nach ihrem ersten Grand-Slam-Coup kurz in die Knie, rappelte sich dann wie in Trance wieder auf. Doch fassen konnte die "French Queen" (Sunday Times) mit der beidhändigen Vor- und Rückhand ihr Glück nicht. "Schon als Mädchen träumt man davon. Und dann als Profi jeden einzelnen Tag. Ich muss mir das noch einmal auf DVD anschauen, um es zu realisieren", sagte die 28-Jährige, die im All England Club Geschichte schrieb. 47 Mal musste Bartoli an einem Major-Turnier teilnehmen, um endlich einmal ganz oben zu stehen. Mehr Zeit hat bislang noch keine für ihren ersten Triumph bei einem der vier großen Turniere benötigt.

Die Tennis-Welt jedenfalls lag der unorthodox spielenden Rechtshänderin mit dem langen Zopf und dem IQ von 175 zu Füßen. "Sie sieht nicht so aus, wie man sich eine Athletin vorstellt. Aber sie schwingt ihren Schläger wie einen Pinsel. Sie hat ihren eigenen Picasso fabriziert", sagte US-Ikone John McEnroe über Hobby-Malerin Bartoli. Und "Big Mac" wagte sogar eine kühne Prognose: "Marions Erfolg wird Millionen Menschen inspirieren. Sie haben gesehen: Alles ist möglich im Leben." Pat Cash, australischer Wimbledonsieger von 1987, sprach gar von einem "Märchen".

"Irgendwann wirst du belohnt"

Dass die eigentlich als Doppelfehler-Spezialistin bekannte Bartoli, die das Finale mit einer dicken Blase unter dem Zeh spielte ("Der Strumpf war blutrot"), ihren Kindheitstraum mit einem Ass perfekt machte, passte perfekt ins Bild. Mehr noch. Es war irgendwie auch ein (Ausrufe-)Zeichen. Der letzte Akt ihrer ganz persönlichen Befreiung von ihrem Vater Walter, der sie unmittelbar nach Niederlagen oft noch auf dem Trainingsplatz geschickt hatte: Aufschlagtraining auf leere Plastikflaschen, hieß die Bestrafung. "Man geht durch Tränentäler, erleidet Schmerzen, aber irgendwann wirst du belohnt. Dass ich harte Zeiten zu überstehen hatte, macht diesen Erfolg noch besser", sagte Bartoli, die 2007 schon einmal im Wimbledonfinale gestanden hatte.

Erst zu Beginn des Jahres hatte sich die neue Nummer sieben des Rankings von ihrem dominanten Vater losgesagt. Der Arzt hatte seine Tochter als Autodidakt mit unkonventionellen Trainingsmethoden in die Weltspitze geführt. Bei einer dieser Methoden ist Bartoli an Spanngurten befestigt und sieht aus wie eine bemitleidenswerte Bergsteigerin. Kein Wunder, dass allerhand Spott das Duo begleitete.

Marion schwieg — und litt. Wohl auch, weil Walter Bartoli darauf drängte, dass seine vollschlanke Tochter kein Gramm an Gewicht verliert. Die Kraft für ihr Power-Tennis hätte ja abhanden kommen können. Erst Fed-Cup-Teamchefin Amelie Mauresmo und Bartolis neuer Trainingspartner Thomas Drouet lösten augenscheinlich den Knoten bei der 28-Jährigen. "Hart zu arbeiten und Spaß zu haben, das schließt sich ja nicht aus", erklärte Mauresmo.

Volle Box statt gähnende Leere

Bestes Beispiel: Vor dem Finale trällerte Bartoli lauthals in der Stadion-Katakomben den Bob-Sinclair-Song "Summer Moonlight" — und holte sich dann als erste Französin nach Mauresmo (1996/Wimbledon) einen Grand-Slam-Titel. Bezeichnend, dass Vater Bartoli beim größten Coup seiner Tochter in der zweiten Reihe der vollen Box saß. In der Vergangenheit war Dr. Walter meist der einzige in der gähnend leeren Bartoli-Loge gewesen.

Jetzt fiebert neben Mauresmo auch Frankreichs Hoffnungsträgerin Kristina Mladenovic mit ihrer Fed-Cup-Teamkollegin mit. Und Bartoli scheint ihre schöne neue Welt in vollen Zügen zu genießen. "Ich bin glücklich wie nie", sagte sie, die nicht nur äußerlich eher an eine Diplom-Psychologin als an eine Wimbledonsiegerin erinnert: "Es ist eben auch Teil meiner Persönlichkeit, anders zu sein." John McEnroe kann das unterstreichen. Auch ohne Pinsel.

(sid)
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