Superstar sagt endgültig "goodbye" Iverson — kleiner Mann mit großem Kämpferherz

Düsseldorf · Über ein Jahrzehnt prägte Allen Iverson das Gesicht der NBA. Nun wurde ihm eine große Ehre zuteil: In der Nacht zum Sonntag haben die Philadelphia 76ers sein Trikot unter das Hallendach gehängt. Seine legendäre Nummer drei wird bei den 76ers nie wieder vergeben.

Allen Iverson — kleiner Mann mit großem Kämpferherz
Foto: ap

Die Fans im Wells Fargo Center zu Philadelphia erheben sich von ihren Sitzen, die Halle bebt, der Stadionsprecher grölt und zieht die Silben in die Länge: "Allen I-Ver-Soooooon". Es ist wie so oft in den vergangenen Jahren, ein Flashback in die alten goldenen Zeiten des Allen Iverson. Philadelphia liebt Iverson. Und Iverson liebt Philadelphia.

"Iverson Retirement Game" tauften die 76ers den Abend. Eigentlich spielen die 76ers gegen die Washington Wizards. Doch das gerät schnell zur Nebensache. Jeder in der Halle wartet auf die Halbzeit-Show, in der Philadelphias Sportheld für seine Karriere geehrt werden soll.

Wieder einmal steht Iverson im Mittelpunkt, wieder einmal stiehlt er allen die Show: Der 1,83 Meter große Spieler, der über ein Jahrzehnt die Fans in der Stadt der brüderlichen Liebe verzückte. Mit einer großen Halbzeitshow huldigt die Franchise unter den Augen der Basketball-Legenden Julius Erving und Moses Malone ihrem Star. Die 76ers werden seine Nummer drei nie wieder vergeben, ein Banner mit seiner Nummer und seinem Namen hängt nun symbolisch unter der Hallendecke, eine Tradition im US-Sport, die mit viel Pathos aufgeladen ist.

Iverson und Philadelphia, das passte von Anfang an. Im Jahr 1996 holten die kriselnden 76ers Iverson mit dem ersten Draftpick vom College in die NBA. Philadelphia hatte zu dieser Zeit eine Bilanz von 18 Siegen und 64 Niederlagen. Mit dem 75-kg-Energiebündel ging es aufwärts für das Kellerteam an der Ostküste. Zunächst gemächlich, dann Schritt für Schritt an die NBA-Spitze im Jahr 2001.

Gleichzeitig entwickelte sich der mittlerweile 38-Jährige zum Superstar der NBA und läutete die Post-Michael-Jordan-Ära ein. Er sorgte mit seiner spektakulären Spielweise regelmäßig für Highlights. Es war die Mischung aus Geschwindigkeit, Dynamik, Athletik und Ballgefühl, die dem Publkum "Ohs" und "Ahs" entlockte. Schnell thronte "The Answer", so Iversons Spitzname, an der Spitze der besten Scorer in der NBA.

Schnell, dribbelstark, furchtlos

Iversons Spielweise war radikal. Wenn er den Ball hatte, suchte der für NBA-Verhältnisse kleine Mann den Abschluss — komme was wolle. Vor großen Namen hatte er keinen Respekt. Das musste auch NBA-Legende Jordan erfahren. Schon als Liganeuling vernaschte der damals 21-jährige Iverson den NBA-Champion rotzfrech mit seinem unnachahmlichen Crossover, also dem schnellen Handwechsel. Die Szene findet sich noch heute in jedem Iverson-Highlight-Video.

Die erfolgreichste Saison feiern Iverson und die 76erst ohne Zweifel 2000/2001. Der Guard führt seine 76ers zu einer Bilanz von 56-26 und wird zum wertvollsten Spieler (MVP) der Saison und des All-Star-Games gewählt. Damit ist er der kleinste MVP aller Zeiten. Mit einem Team, das quasi nur aus guten Rollenspielern und der Scoring-Maschine Iverson bestand, gelang ihm ein fulminanter Ritt bis in die NBA-Finals. Dort warteten die Los Angeles Lakers um die Superstars Shaquille O'Neal und Kobe Bryant. Die Lakers befanden sich damals in etwa der Form wie der FC Bayern München im Jahr 2014 — quasi unschlagbar. Keine einzige Niederlage hatten die Kalifornier bis dato in den Play-offs kassiert. Alle erwarteten, dass auch die 76ers ein 0:4-Packung einfahren würden. Eine Verlängerung und 48 Iverson-Punkte später führte Philadelphia mit 1:0 — die US-Sportwelt stand Kopf. Danach gewannen die Lakers zwar vier Spiele in Folge und wurden Meister, dennoch boten die 76ers Paroli und Iverson begeisterte mit seiner Intensität Basketballfans rund um den Globus.

Iverson allerdings würde seinem Traum einer NBA-Meisterschaft nie wieder so nahe kommen. Erfolgsmäßig ging es danach abwärts, die 76ers waren nur noch Mittelmaß. Dies lag auch daran, dass Iverson mit keinem Co-Star harmonieren konnte. Larry Hughes, Keith Van Horn, Chris Webber: Sie alle scheiterten an dieser Aufgabe. "The Answer" aber blieb einer der besten Punktegaranten in der NBA. In der Saison 2005/2006 legte er sogar 33 Punkte im Schnitt auf. Insgesamt gewann er viermal die Scoring-Krone der NBA.

Es sind aber nicht nur die Statistiken die für Aufsehen sorgen und das Phänomen Iverson kreieren, sondern die Art und Weise, wie der junge Amerikaner auftrat. Iverson polarisierte durch seine Spielweise und seine Gangsta-Attitüde. Vielen missfiel seine Art zu reden, sein Baggy-Hosen, seine Tätowierungen, seine Corn-Rows, seine Trainingseinstellung.

Die Kritiker verschrieen ihn als einen Egozocker, der seine Mitspieler nicht besser mache und mit dem man nie die Meisterschaft gewinnen würde. Die Fans liebten ihn für seine furchtlose Spielweise, seine spektakulären Dribblings und konnten sich mit dem "kleinen" Athleten nur allzu gut identifizieren. Eine der es Abend für Abend mit den großen, übermächtigen Jungs aufnahm, wie Rocky Balboa, der andere große, wenn auch fiktive, Sportheld aus Philadelphia.

Für die NBA war Iverson Fluch und Segen zugleich. Ein Aushängeschild, ein Spieler der hohe Einschaltquoten und volle NBA-Arenen versprach. Auf der anderen Seite fiel Iverson oft auch abseits des NBA-Parketts auf — zumeist negativ: Eheprobleme, illegaler Drogen- und Waffenbesitz, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zudem widersetzte sich Iverson dem eingeführten Dress-Code der NBA. Statt im feinen Anzug zeigte sich der Hobby-Rapper in überdimensionalen Hip-Hop-Klamotten, geschmückt mit Schmuck und Ketten. Iverson blieb stets der Junge von der Straße mit Ghetto-Attitude aus Hampton, Virginia. Er war niemals ein Nice-Guy a la Jordan.

"Es wird nie wieder jemanden wie Iverson geben"

Unbestritten ist hingegen Iversons Kämpferherz und Einsatzwille im Spiel. Sein ehemaliger Teamkollege Dikembe Mutombo sagte über ihn: "In ihm brannte etwas, das ihn glauben ließ, er sei nicht zu stoppen." Iverson ging stets voran, lief trotz seiner unzähligen Verletzungen immer wieder auf, motivierte seine dadurch seine Mitspieler. In die Lobeshymne stimmt auch sein Ex-Trainer Larry Brown ein: "Er ist vielleicht der großartigste Athlet, den ich je gesehen habe. Ich denke, es wir nie wieder jemanden wie Allen Iverson geben."

Über Zwischenstopps in Denver, Detroit und Memphis, kehrte er noch einmal für kurze Zeit nach Philadelphia zurück. Dann trat Iverson aufgrund einer Erkrankung seiner Tochter zurück.

76er bis zum Tod

2010 verließ er die NBA, 2011 heuerte er noch einmal in der Türkei bei Besiktas Istanbul an, dort spielte er zum letzten Mal professionellen Basketball. Mittlerweile überwogen die negativen Schlagzeilen. Gerüchte über Alkoholeskapaden, Schulden und Hausverbote in verschiedenen Casinos machten die Runde. Dennoch hieß es immer wieder, "The Answer" habe noch einmal eine Antwort parat und plane ein NBA-Comeback. Ende Oktober 2013 machte er diesen ein Ende und erklärte endgültig seinen Rücktritt. "Ich werde immer ein 76er sein, bis ich sterbe", sagte er sichtlich berührt.

Die Fans in Philadelphia hoffen derweil auf einen weiteren Flashback. Denn momentan fühlt es sich in Philadelphia ein wenig an wie 1996. Die 76ers dümpeln erneut am Ende der Tabelle, belegen den vorletzten Platz, das Team spielt gelinde gesagt mies. Auch zur Ehrung Iversons gab es eine bittere Niederlage, Philadelphia verlor 103:122. Es wart die 13. Pleite in Serie, nur die Milwaukee Bucks sind im Osten noch schlechter als Philadelphia. Absteigen können Profiteams im US-Sport nicht. Alle warten indes auf einen neuen Heilsbringer. Einen neuen Basketball-Messias, einen neuen Iverson.

Da passt es gut, dass der neue junge Aufbauspieler der 76ers, Michael Carter-Williams, einer der Favoriten auf den Titel Rookie des Jahres ist. Wie einst Allen Iverson anno 1997.

(rpo)
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