Super Bowl Von Gladiatoren, echtem Teamgeist und irren Exzessen

Glendale · Football ist gefährlich, mit seinen ewigen Pausen kann es langweilig sein, aber in der amerikanischen Publikumsgunst kann ihm keine andere Sportart das Wasser reichen. An Erklärungsversuchen mangelt es nicht.

 Tom Brady, Quarterback der Patriots, gibt das angeblich nicht voll aufgepumpte Objekt der Begierde an seinen Running Back LeGarrette Blount weiter.

Tom Brady, Quarterback der Patriots, gibt das angeblich nicht voll aufgepumpte Objekt der Begierde an seinen Running Back LeGarrette Blount weiter.

Foto: dpa, msc

Es ist schon bemerkenswert, welchen Furor der Streit um einen braunen, elliptischen Ball auslösen kann. Genauer gesagt, um den Luftdruck im Ball. Am Sonntag treten die New England Patriots gegen die Seattle Seahawks zum Super Bowl an, und die Kontroverse, die seit Tagen die Sportschlagzeilen bestimmt, kreist um den Verdacht, das Kabinenpersonal der Patriots könnte die Bälle beim letzten Match vorm Finale in hinterlistiger Absicht schwächer aufgepumpt haben, als es den Vorschriften entspricht.

Solche Bälle lassen sich leichter werfen und fangen, was beim neutralen Beobachter die Frage aufwirft, ob das klar unterlegene Team, die Indianapolis Colts, nicht ebenso davon profitierte. Bill Belichick, der Trainer der Patriots, sieht sich in seiner Ehre verletzt. Tom Brady, der Quarterback alias Spielmacher, weiß von nichts. Und die Footballgemeinde, sofern sie nicht in Neuengland beheimatet ist, spricht gereizt von "Deflategate": Haben die Patriots gemogelt? Sind sie nicht sowieso notorische Betrüger?

Genauso bemerkenswert wie die Heftigkeit des Konflikts ist der Stellenwert, den Football im amerikanischen Alltag besitzt. Sieht man es distanziert durch die europäische Brille, reißen muskulöse Männer in hautengen Hosen, die Köpfe behelmt, die Schultern gepolstert, einander immerzu um, bevor sie sich in Menschentrauben verkeilen, aus denen ab und an der nächste Spielzug gelingt. Dazwischen ewige Pausen, wie gemacht für die Fernsehwerbung. Sieger ist, wer den Ball am öftesten hinter die gegnerische Linie bringt. So kann man es sehen. Für Amerikaner dagegen wohnt der Schlacht auf dem Rasen ein Zauber inne, den Nichtamerikaner nicht wirklich verstehen können.

Zumindest glaubt das Sal Paolantonio, Autor des Buches "How Football Explains America". Bei Football gehe es darum, Territorium zu erobern, beharrlich und systematisch, bis man in die so genannte Endzone vordringt. In den 1880er Jahren, als sich Universitäten wie Harvard, Princeton und Yale auf reformierte Regeln verständigten, auf dass sich Football markanter vom britischen Rugby unterscheide, seien die USA nun mal ein Land auf Expansionskurs gewesen, besonders westlich vom Mississippi. Das Prinzip des Bodengewinns als Spielmaxime, vielleicht sei es politisch nicht korrekt, das zu sagen, aber dies seien nun mal die Wurzeln, meint Paolantonio.

Michael Mandelbaum, Politikprofessor an der Johns Hopkins University, sieht es prosaischer. "Football ist zwar kontrollierte Gewalt, aber nichtsdestotrotz ist es Gewalt, und dabei zuzuschauen, daran finden die Menschen Gefallen, seit die Gladiatoren im antiken Rom kämpften." Im Übrigen, doziert Mandelbaum, stehe der Sport mit seinem ausgeprägten Teamgeist für das kollektive Organisationsprinzip der Industrie, während Baseball mit seinen Einzelaktionen und dem eher pastoralen Ambiente das Agrarzeitalter symbolisiere. Es mangelt also nicht an Erklärungsversuchen, auch nicht an solchen, die die Footballarena voller Pathos zur Charakterschule der Nation idealisieren. Football lehre Demut, sagt Jerry Jones, der Besitzer der Dallas Cowboys, "denn bei jedem einzelnen Spielzug nimmt sich ein anderer vor, dich aufs Kreuz zu legen". Wieder aufzustehen, nachdem man zu Boden ging, das sei ja wohl die Quintessenz des American Spirit.

Dann ist da noch der Versuch, Football ins politische Koordinatensystem einzuordnen, was regelmäßig misslingt. Kaum überraschend erfreut sich der Sport besonderer Popularität unter Rednecks, den sprichwörtlichen Malochern mit dem von der Sonne verbrannten Nacken. Daraus aber eine Nähe zur Republikanischen Partei abzuleiten, nur weil Rednecks sie mehrheitlich wählen, wäre zu simpel. Es gibt sogar eingefleischte Republikaner, die über die Rasenduelle die Nase rümpfen, allen voran George Will, der Doyen unter den konservativen Politikkolumnisten. "Football", schreibt er, "vereint die beiden negativsten Eigenheiten Amerikas, Gewalt, die nur unterbrochen wird von Ausschusssitzungen". Das mit den Sitzungen bezieht sich wohl auf die Tatsache, dass die Spieler ständig in Gruppen herumstehen, um über taktische Finessen zu reden. Football, tadelt Will, lehre die progressive Tugend, das Individuum der Gemeinschaft unterzuordnen.

Nicht, dass es aus der progressiven Ecke an Kritik fehlen würde. Gehirnerschütterungen infolge schwerer Kopfstöße sind so normal wie Prellungen beim Fußball. Tragische Geschichten über Athleten, die sich das Leben nehmen, weil sie die Hirnkrankheit nicht mehr aushalten, haben sogar den Präsidenten auf den Plan gerufen. "Hätte ich einen Sohn, ich würde ihn nicht Football spielen lassen", schaltete sich Barack Obama, ein bekennender Basketballfan, vor zwölf Monaten in den Diskurs ein. "Diese Jungs, die wissen, worauf sie sich einlassen, es ist ja kein Geheimnis mehr." Es sei wie bei einem Raucher, der es nicht lassen könne.

Das Wichtigste über den Super Bowl 2015
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Was alles nichts ändert am Phänomen Super Bowl. 2014 saßen rund 110 Millionen Amerikaner, ein Drittel der Bevölkerung, vor den Bildschirmen. Jeder vierte US-Haushalt, haben Konsumentenforscher ermittelt, legt sich in den Wochen vor dem Super Bowl einen neuen Fernseher zu. Dann das ganze Drumherum, die Halbzeitshow mit Stars wie Bruce Springsteen, Madonna, diesmal Katy Perry; die Werbefilmchen, die oft Kultcharakter haben; die Fliegerstaffel, die übers Stadion hinwegdonnert, die tanzenden Cheerleader mit ihrem Dauerlächeln. Gregg Easterbrook, Kommentator des Sportkanals ESPN, spricht von einem "irren, ulkigen Exzess", der — wenigstens einmal im Jahr — dem Bild nahekomme, wie es der Rest der Welt von Amerika habe.

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