Düsseldorf Wenn Kopfbälle zur Gefahr werden

Düsseldorf · Immer wieder erleiden Spieler schwere Gehirnerschütterungen. Neurologen warnen vor den Folgen und fordern mehr Aufklärung.

Christoph Kramer kann sich nach eigenem Bekunden nicht mehr an das WM-Finale erinnern. Alle anderen haben dagegen noch sehr gut den Triumph der deutschen Mannschaft gegen Argentinien (1:0) im Kopf. Dass ausgerechnet Nationalspieler Kramer als einer der Handlungsbeteiligten einen Filmriss hatte, ist bedauerlich. Weniger wegen der historischen Dimension natürlich. Mehr wegen den möglichen neurologischen (Spät-)Folgen nach der Gehirnerschütterung für den 23-Jährigen von Borussia Mönchengladbach.

"Es kann ein immenser Schaden entstehen, wenn man eine solche Verletzung nicht vollständig auskuriert. Mindestens 14 Tage sollte jemand aus dem Spielbetrieb genommen werden", sagt der Düsseldorfer Sportarzt und Neurologe Rafael-Michael Löbbert. Die eigentliche Gefahr bestehe in einem zweiten Schlag, den das bereits traumatisierte Gehirn abbekommt, wenn der Betroffene weiterspielen darf. "Schwindel, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Depressionen - in meiner Praxis behandle ich viele ehemalige Aktive aus verschiedenen Sportarten mit solchen Symptomen." Im Fußball, sagt Löbbert, habe man die Gefahr nicht erkannt: "Es müsste eine fachliche Begleitung geben. Die Branche tut sich aber mit Veränderungen schwer."

In der 17. Minute der Final-Partie war Kramer in einem Dreikampf mit zwei Argentiniern verwickelt, einer schob ihn, und vom anderen wurde er mit der Schulter im Gesicht erwischt. Kramer ging benommen zu Boden und musste behandelt werden. Nach einer kurzen Pause kehrte er zurück aufs Feld - erkennbar desorientiert. Niemand hielt ihn zurück. "Kurz nach der Attacke kam Kramer zu mir und fragte, ob dies das WM-Finale sei", berichtete unlängst Schiedsrichter Nicola Rizzoli, der zunächst dachte, Kramer mache einen Witz.

Der defensive Mittelfeldspieler soll aber nachgehakt haben. Als Rizzoli Kramers Vermutung bestätigte, soll dieser geantwortet haben: "Danke, das war sehr wichtig für mich." Hernach sprach der Unparteiische die Empfehlung gegenüber Bastian Schweinsteiger aus, den Akteur auszuwechseln - Bundestrainer Joachim Löw reagierte sofort und erlöste Kramer. Verbindlich anordnen konnte der Schiedsrichter es laut dem Regelwerk der Fifa übrigens nicht. Der Weltverband hat zwar minuziös festgelegt, dass ein Spieler zum Beispiel nicht mit einer noch blutenden Wunde mitwirken darf, fahrlässig ausgeklammert wurde indes, in welchem geistigen Zustand er dies macht. "Es müsste", sagt Löbbert, "einen unabhängigen Arzt geben, ähnlich wie der Ringrichter beim Boxen, der dem Schiedsrichter in solchen Fällen assistiert." Die Fifa hält das ganze Thema nicht für relevant. Es kommt angeblich im Schnitt nur zu einer Gehirnerschütterung pro Fifa-Turnier.

Beim Fußball wirken brutale Kräfte auf den Körper ein. Vieles davon wurde in dem "Männersport" lange einfach so hingenommen. Irgendwann sind wenigstens Schienbeinschoner eingeführt worden. Das war es an Schutz. Die Folge: Aus extrem komplizierten Brüchen sind so in diesem Bereich zumeist glatte geworden. Im Kopfbereich sind die Spieler bis heute erheblichen Belastungen ausgesetzt - das Spielgerät kommt mit bis zu 100 Stundenkilometern angerauscht, dazu landen Ellbogen häufig Volltreffer. Das Spiel wird immer athletischer, die Knochen aber nicht im gleichen Maße robuster. "Bei einem Kopfball wirken G-Kräfte des 30 bis 40-fachen der Erdanziehungskraft", erklärt Löbbert. "Wenn man bedenkt, dass es beim normalen Gehen über die Straße nur ein G ist, wird schnell die Dimension deutlich." In anderen Sportarten ist es noch extremer: Im Boxen sind es bei Wirkungstreffern zwischen 50 und 100, beim Football und Eishockey 80 bis 100.

Um diese Last überhaupt aushalten zu können, ist eine Mischung aus Training, Technik und Glück nötig. "Nur mit gut ausgebildeter Nackenmuskulatur kann man den Aufprall dementsprechend abfangen", sagt Löbbert. Dazu kommt, dass das Gehirn im Kopf schwimmend gelagert ist. So dämpft die umgebende Flüssigskeitsschicht (größtenteils) die auftretenden Kräfte. In der Theorie sollte der Kopfball bestenfalls unter voller Körperspannung ausgeführt werden, wenn möglich mit der Stirn getroffen.

Der DFB hat im Nachwuchsbereich reagiert. Der Verband empfiehlt, erst mit 13 oder 14 Jahren mit dem Kopfballtraining anzufangen - und dann zunächst mit einem leichteren Ball. Es hält sich aber fast niemand an die Vorgaben. Eine Entwicklung mit nicht zu kalkulierenden Folgen. "Uns fehlt die Erfahrung", bekundet der 53-jährige Löbbert. "Beeinträchtigungen des Gehirns können nur mit aufwendigen Untersuchungen festgestellt werden. Das zahlt aber keine Krankenkasse."

In anderen Sportarten ist die Sensibilität für post-traumatische Hirnerkrankungen deutlich größer. Nach diversen Schadenersatzklagen von Spielern der nordamerikanischen Profi-Footballliga NFL sind dort Regeln erlassen worden, um der Sorgfaltspflicht nachzukommen. Dazu zählt ein genau festgelegtes Programm zur Wiedereingliederung nach einer Kopfverletzung. Und schon vor einer Verpflichtung ist die medizinische Untersuchung nicht nur darauf beschränkt (wie im Fußball), den muskulären Zustand zu erfassen. In einer Testreihe, zum Beispiel in der Deutschen Eishockey Liga vorgeschrieben, geht es ausschließlich um neurologische Erkenntnisse.

(RP)
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