Weltcup in Willingen Am Ballermann des Skispringens

Willingen · Die Zuschauer in Willingen feiern gerne und viel. Ein Besucher wollte ein Kamel mit ins Stadion nehmen. Die Atmosphäre wirkt künstlich.

 Die Zuschauer in Willingen feiern gerne und viel. Ein Besucher wollte sogar ein Kamel mit ins Stadion nehmen.

Die Zuschauer in Willingen feiern gerne und viel. Ein Besucher wollte sogar ein Kamel mit ins Stadion nehmen.

Foto: Screenshot HNA

Wie verrückt die Ideen von Zuschauern beim Skispringen ausfallen können, stellt das Sicherheitspersonal schnell fest: Vor der Qualifikation will ein Zuschauer ein ausgewachsenes Kamel an der Leine mit ins Stadion bringen. "Einen eigenen Kamel-Abstellplatz hatte der Ski-Club Willingen nicht eingerichtet, und so kam das Kamel nicht durch das Nadelöhr Einlasskontrolle", heißt es in der Mitteilung der Veranstalter. Sportinteressierte, Feierbiester, Chaoten — das Publikum beim Skisprung-Weltcup in Willingen bietet eine Mischung, die sich mit anderen Sportgroßveranstaltungen schwer vergleichen lässt.

Rund 50 betrunkene Hooligans, die den Fußballvereinen aus Bielefeld und Hannover nahestehen sollen, liefern sich nach Polizeiangaben am Samstagabend eine Massenschlägerei — drei Kilometer von der Mühlenkopfschanze entfernt. Im Stadioninnenbereich ist das Tragen von Fußballschals jeglicher Couleur weit verbreitet. In Block A hängt eine Fahne von Hertha BSC direkt neben einer des 1. FC Nürnberg — die Fans stoßen friedlich mit frisch Gezapftem aus dem am Bierstand erstandenen Fünf-Liter-Faß an. Fußball-Anhänger bilden nur einen kleinen Teil des breiten Spektrums der rund 35.000 Gäste an drei Tagen in Willingen. Diese nehmen den sportlichen Wettkampf als Anlass, um sich im hessischen Hochsauerland zu amüsieren — je nach ihren ganz persönlichen Vorlieben.

Im Festzelt direkt neben der Schanze - ein geschlossener Gastronomiebereich, in dem paradoxerweise Nichtraucher verächtliche Blicke zugeworfen bekommen - bietet sich dem Nüchternen ein Gemälde aus Karneval, Oktoberfest, Ballermann und Après Ski. "Liebe Zuschauer, das Festzelt ist voll, komplett dicht, es ist zu. Bleiben Sie also einfach im Stadion." Die Lautsprecheransage während des ersten Durchgangs im Teamspringen unterstreicht, dass es zahlreiche Besucher gibt, die ihr Eintrittsgeld eher als Party-Investment, denn als Gelegenheit zur Sportschau sehen.

Die Stimmung auf den Rängen, während Springer nach Springer ins Tal fliegt, ist erstaunlich unselbstständig und choreographiert. Das mag daran liegen, dass sich der Stadionsprecher als Vorsänger sieht, der auch während der Sprünge durchgehend redet und so jede Spontanität des Publikums im Keim erstickt. Das kann auch daran liegen, dass es im Gegensatz zu anderen Sportarten, bei denen solch eine Masse an Fans vor Ort ist, kaum eine fortwährende Entwicklung des Gesehenen gibt. Eine Einordnung der sportlichen Leistung bietet sich nur in einem Sekundenbruchteil anhand der erzielten Weite und der Landung. Jubel oder Stöhnen, dann kommt der nächste, unabhängige Athlet.

Als klar wird, dass der zweite Durchgang aufgrund schwieriger Windverhältnisse abgesagt wird, gibt es keine Buh-Rufe, lediglich ein leichtes Seufzen ist zu vernehmen. Da das deutsche Team nach dem ersten Durchgang führt und somit den Sieg zugesprochen bekommt, ist die Zufriedenheit schnell wiederhergestellt. Es wird noch einmal das schwarz-rot-goldene Fähnchen geschwenkt, ehe sich die Spreu vom Weizen trennt. Die Sportfans fahren nach Hause, die Party-Fraktion feiert weiter, im Zelt oder der Kneipe im Dorf. Anlaufstelle Nummer eins: das Willinger Brauhaus. Ein junger Gast, der mit einem Freund am Ausgang auf weitere Kumpel wartet und Leute an sich vorbeilaufen sieht, sagt: "Weißt du eigentlich, wie viele Plätze wir gerade im Brauhaus verlieren?"

(erer)
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