Tag der Arbeit In der Abwärtsspirale

Mönchengladbach · Angelika Zohlen ist Ende 50, alleinerziehende Mutter, promovierte Akademikerin – und seit mehr als zehn Jahren arbeitslos. Eine Perspektive hat sie kaum. Sie hält sich über Wasser, mit dem Ziel, nicht unterzugehen. Wir haben sie besucht.

Angelika Zohlen (58) hat ihre Forschungsunterlagen alle aufbewahrt. In dem kleinen Schlaf- und Arbeitszimmer schreibt sie Bewerbungen.

Angelika Zohlen (58) hat ihre Forschungsunterlagen alle aufbewahrt. In dem kleinen Schlaf- und Arbeitszimmer schreibt sie Bewerbungen.

Foto: Andreas Endermann

Angelika Zohlen ist Ende 50, alleinerziehende Mutter, promovierte Akademikerin — und seit mehr als zehn Jahren arbeitslos. Eine Perspektive hat sie kaum. Sie hält sich über Wasser, mit dem Ziel, nicht unterzugehen. Wir haben sie besucht.

Dutzende Ordner füllen das Wandregal in dem winzigen Schlafzimmer bis an die Decke. Die Beschriftung kaum noch lesbar, auf Englisch, Schwedisch, Deutsch und Spanisch. Grün: Versicherungen. Rot: für die Kinder. Gelb und Blau: Forschungsunterlagen aus Schweden. "Die wollte ich längst entsorgen", sagt die promovierte Biologin Angelika Zohlen. Gebraucht hat sie diese Papiere nie, hat nie wirklich in ihrem Beruf gearbeitet. Aber sein Lebenswerk, das wirft man ja nicht einfach so weg.

Über Langzeitarbeitslose gibt es viele Klischees: schlechtes Elternhaus, falsche Freunde, haben nichts aus sich gemacht. Ungebildet, ungepflegt, faul. Selbst schuld. Angelika Zohlen hat Abitur, eine Ausbildung, ein Einser-Diplom und einen Doktor in Biologie; sie spricht Englisch, Schwedisch und Spanisch; ist in der Elternpflegschaft für ihre Kinder aktiv und hat ihren Haushalt im Griff. Sie ist 58 Jahre alt, ihr Lebenslauf samt Praktika, Fortbildungen füllt sechseinhalb Seiten. Und doch liest man daraus genau ein Satz: Ins Berufsleben fand sie nie. Und das wird sich womöglich auch nicht mehr ändern. Wie kann das sein?

Arbeitslosigkeit ist ein Massenschicksal, die Ursachen sind individuell

Auch wenn die Arbeitslosenquote zuletzt auf den niedrigsten Stand seit 25 Jahren gesunken ist, sind immer noch rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos, jeder Dritte länger als ein Jahr. Jeder fünfte Arbeitslose hat keinen Abschluss; am geringsten ist die Quote mit unter drei Prozent bei Akademikern. 4,4 Millionen Deutsche waren 2016 laut Bundesagentur für Arbeit auf Hartz IV angewiesen. Arbeitslosigkeit ist ein Massenschicksal, die Ursachen sind individuell.

Karl Sasserath, Leiter des Arbeitslosenzentrums Mönchengladbach, berät seit mehr als 30 Jahren Menschen, die ihren Job verloren haben. Er kennt die Faktoren, die Arbeitslose immer weiter in die Abwärtsspirale treiben. "Entscheidend ist die Dauer", sagt Sasserath, "je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird's." Oft spielen Kinder eine Rolle, Alleinerziehende bilden einen Großteil der Arbeitslosen. Mit zunehmendem Alter nach der Erziehungszeit steige die Konkurrenz der Jüngeren. Es folge häufig die Sinnkrise: Habe ich noch Chancen? Habe ich das Richtige gelernt? Bin ich gut genug? "Hat man dann noch gesundheitliche Probleme oder viele Schulden, ist es fast unmöglich, da rauszukommen", sagt Sasserath.

Ohne sie persönlich zu kennen, hat er damit Angelika Zohlens Lage ziemlich exakt erfasst. Weil ihr Abi-Schnitt damals für ein Biologiestudium nicht reicht, macht sie erst eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin, arbeitet einige Jahre im Labor, verdient ganz gut — bis sie mit Ende zwanzig doch den Studienplatz bekommt. "Freunde meinten: Du bist doch verrückt", sagt Zohlen, "aber Biologie war ja immer mein Traum." Sie legt ein Einser-Diplom ab, Spezialgebiet Naturschutz, forscht in Spanien und später in Schweden, wo sie vier Jahre an ihrer Promotion arbeitet. Mit 37 Jahren hat sie den Doktortitel; ist inzwischen verheiratet, bekommt zwei Kinder. Das Glück, denkt sie, könnte kaum größer sein.

"Arbeitslosigkeit hat einen Preis — die Gesundheit"

Dann scheitert die Ehe, ihre Mutter erkrankt schwer, es geht zurück nach Deutschland — ohne wirkliche Berufserfahrung, ohne Rücklagen, ohne Plan. Kita- und Jobsuche zehren an ihr und der Tod ihrer Mutter. Mal jobbt sie als Telefonistin, mal fährt sie Essen aus. Als Biologin findet sie keine Stelle; die Jahre verstreichen, die junge Konkurrenz wächst nach. Dann das Rheuma. Anderthalb Jahre fällt sie aus. Angekommen in der Abwärtsspirale.

Sasserath sagt: "Arbeitslosigkeit hat einen Preis — die Gesundheit." Zusammenhänge zwischen Dauerarbeitslosigkeit und Erkrankungen seien erwiesen. Und die Zahl der Langzeiterwerbslosen steige weiter. 1982 gründete er das vom Land und der EU geförderte Arbeitslosenzentrum (ALZ) in Mönchengladbach — einer Stadt mit 270.000 Einwohnern, von denen rund 40.000 Hartz IV beziehen. Ratsuchende bekommen im ALZ schnelle, unkomplizierte Hilfe. "Wir erklären Bescheide, füllen Anträge aus und nehmen uns Zeit, die Jobcenter-Mitarbeiter gar nicht haben", sagt Sasserath.

Mit Ämtern hat Angelika Zohlen gemischte Erfahrungen. Bei der Arge, wie sie das Jobcenter immer noch nennt, seien sie oft arrogant, selten nett. "Fortbildungen machen ist kein Problem", sagt Zohlen, die Frage sei nur, welche. Von Computerkursen bis zur Heilpraktikerschule hat sie einige hinter sich. Ob Biologin oder Bürohilfe, auch putzen würde sie, wenn das gesundheitlich ginge. Mehr als 50 Bewerbungen verschickte sie in den vergangenen Jahren. Zurück kam meist nicht mal eine Antwort. Hätte sie das Studium bloß nicht gemacht. Wäre sie doch MTA geblieben. Alles könnte anders sein. Hätte, wäre, könnte. Die Krux des Konjunktivs.

"Mama, ich brauch Nike-Schuhe"

Angelika Zohlen sitzt in der Küche ihrer Drei-Zimmer-Wohnung, die für die beiden Kinder (13 und 15) langsam zu eng wird. Am Tisch stehen zwei Kinderstühle, für neue Möbel fehlt das Geld. "Ich spare an allem", sagt Zohlen. Das kleine Auto ist der einzige Luxus. Von Hartz IV und Kindergeld bleiben ihr im Monat etwa 600 Euro zum Leben. Schuhe gibt es nur, wenn die alten nicht mehr passen. "Mama, ich brauch Nike-Schuhe, sonst werde ich gemobbt", sagt ihr Sohn. Dass das nicht geht, wissen sie beide.

"Geschämt habe ich mich nie", sagt die 58-Jährige. Höchstens vor ehemaligen Kommilitonen in guten Positionen. Das gehe ans Selbstwertgefühl. Im Moment hilft sie drei Stunden am Tag in der Schulbibliothek aus. Am liebsten würde sie in die Forschung zurück, ihren Traumberuf. "Ich bin resigniert", sagt Zohlen: "Ich werde nie in meinem Beruf arbeiten." Sie hält sich über Wasser, mit dem Ziel, nicht unterzugehen.

(RP)
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