Interview mit Bernd Raffelhüschen "Die Rente mit 63 ist zutiefst unsozial"

Der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen sprach mit unserer Redaktion über den Sinn und Unsinn der Rentenreform, vom Staat privilegierte Edelrentner und den demografischen Zwang zur Rente mit 70.

Bernd Raffelhüschen lehrt an der Universität Freiburg Volkswirtschaftslehre.

Bernd Raffelhüschen lehrt an der Universität Freiburg Volkswirtschaftslehre.

Foto: dpa

Die Rentenversicherung hat Zahlen zur Rentenbezugsdauer veröffentlicht. Danach erhalten Männer, die heute in Ruhestand gehen, doppelt so lange Rente wie 1960. Wie passt dazu die Rente mit 63?

Raffelhüschen Die abschlagsfreie Rente mit 63 ist schlicht absurd. Wenn Menschen länger leben, müssen sie eigentlich auch länger arbeiten. Stattdessen gestattet die große Koalition ihnen, früher abschlagfrei in Rente zu gehen. Zudem ist die Rente mit 63 zutiefst unsozial: Sie privilegiert die Privilegierten.

Wie das?

Raffelhüschen Der typische Arbeitnehmer, der die Rente mit 63 in Anspruch nehmen kann, ist männlich, Facharbeiter bei Bayer oder Daimler und meist noch mit einer hohen Betriebsrente ausgestattet. Genau diesen Edelrentnern gibt der Staat noch etwas oben drauf. Frauen kommen meist wegen der Kinder nicht auf die nötigen 45 Beitragsjahre. Der berühmte Dachdecker schafft das meist auch nicht, weil es beim konjunkturanfälligen Bau oft Zeiten von Arbeitslosigkeit gibt.

Wie viele werden die Rente mit 63 nutzen?

Raffelhüschen Die Rente mit 63 ist aus Sicht des einzelnen so attraktiv, dass viele sie nutzen werden. Potenziell kommen bis 2029 weit mehr als drei Millionen Menschen für den abschlagsfreien Rentenzugang in Frage.

Rente mit 63 oder Mütterrente - was ist gesamtwirtschaftlich eigentlich schädlicher?

Raffelhüschen Beide Maßnahmen belasten einseitig die junge Generationen. Die Mütterrente kostet bis zum Jahr 2050 insgesamt 115 Milliarden Euro, die Rente mit 63 immerhin 61 Milliarden Euro. Gewinner des gesamten Rentenpaktes sind die Jahrgänge, die 1964 und früher geboren wurden. Vor allem die Jahrgänge zwischen 1950 und 1960 profitieren. Die Jahrgänge ab 1965 werden dagegen einseitig durch das Rentenpaket belastet. Damit hat ausgerechnet die große Koalition einen großen Rückschritt bei der Generationengerechtigkeit gemacht.

Immerhin wird die Regelaltersgrenze bis 2029 auf 67 Jahre angehoben. Reicht das angesichts des weiter steigenden Lebensalters?

Raffelhüschen Nein, auf Dauer wird die Rente mit 67 nicht reichen. Die Deutschen müssen länger als bis 67 arbeiten. Das war auch der Regierungs-Kommission auch schon klar, die 2002 die Rente mit 67 vorbereitet hat. Pro Generation, also etwa alle 30 Jahre, erhöht sich das durchschnittliche Lebensalter um etwa fünf Jahre. Entsprechend muss sich auch die Lebensarbeitszeit erhöhen.

Brauchen wir bald die Rente mit 70?

Raffelhüschen Auf Dauer kommen wir auf eine Anhebung der Regelaltersgrenze nicht herum. Spätestens 2060 brauchen wir die Rente mit 70, damit die Rente bezahlbar bleibt. Diese Frage wird in Deutschland sehr ideologisch diskutiert. Die skandinavischen Länder machen uns vor, wie es besser geht.

Wie ist es dort geregelt?

Raffelhüschen Die Schweden etwa haben die Rente aus dem politischen Streit geholt, indem sie eine regelgebundene Politik machen. Die Rentenleistung orientiert sich am Barwert der eingezahlten Beiträge. Wenn dann die Lebenserwartung steigt, wird der Betrag auf mehr Jahre verteilt und es ergeben sich bei vorzeitigem Renteneintritt versicherungsmathematisch korrekte Abschläge in der Größenordnung von 0,5 Prozent pro Monat. Dies ist deutlich mehr als unsere 0,3 Prozent, die wir jetzt für manche Privilegierte auf 0,0 gesetzt haben. Die skandinavische Regelung führt dazu, dass die Menschen Anreize haben so lang wie möglich — viele sogar bis 70 zu arbeiten.

Viele verstehen nicht, wieso sie länger arbeiten müssen, obwohl die Rentenkasse doch voll ist. Die Finanzreserve ist mit 33,9 Milliarden auf einem Rekordstand gestiegen, das entspricht 1,85 Monatsausgaben.

Das wird sich schnell ändern, wenn Rente mit 63 und Mütterrente zu Buche schlagen. Die jüngsten Wahlgeschenke belasten die Rentenkasse in den nächsten Jahren insgesamt mit 285 Milliarden Euro. Bereits im nächsten Jahr kosten die Maßnahmen über 7 Milliarden Euro. Dann wird es von der Konjunktur abhängen, wie viel von dem Polster der Rentenkasse noch bleibt.

Sollte man dann nicht die Beiträge senken?

Raffelhüschen Wenn die Konjunktur weiter gut läuft und die Einnahmen entsprechend hoch sind, sollte man lieber darüber nachdenken, einen Fehler von 2006 zu korrigieren. Damals hat Sozialministerin Ulla Schmidt die Fälligkeit der Beiträge von Ende auf Anfangs des Monats vorverlegt, was faktisch bedeutete, dass die Arbeitgeber in dem Jahr 13 Monatsbeiträge gezahlt, der Rentenkasse also einen zinslosen Kredit gegeben haben. Das sollte man korrigieren.

Werden irgendwann die Beitragssätze wieder sinken?

Raffelhüschen Angesichts der demografischen Entwicklung sehe ich keine Chance für eine dauerhafte Beitragssenkung. Das am 1. Juli in Kraft getretene Rentenpaket führt dazu, dass der Beitrag von jetzt 18,9 Prozent bis zum Jahr 2040 nach unseren Berechnungen sogar auf über 26 Prozent steigen wird. Das bedeutet eine zusätzliche Belastung für Betriebe und Arbeitnehmer.

(pst)
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