Gerechtigkeitsstudie Die Deutschen fühlen sich ärmer als sie sind

Jeder sechste Deutsche gilt als arm. Oftmals beklagen Politiker eine immer größer werdende Kluft in den Einkommen. Eine neue Studie zeigt: Die Ungleichheit in Deutschland wird maßlos überschätzt.

Gerechtigkeitsstudie: Die Deutschen fühlen sich ärmer als sie sind
Foto: dapd, Patrick Sinkel

Gewaltige Einkommensunterschieden. Soziale Kluft. Die Armen immer ärmer, die Reichen immer reicher. So lauten in den vergangenen Jahren viele Schlagzeilen und so nehmen viele Deutsche die deutsche Wirklichkeit wahr.

Wie eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln nun aber illustriert, findet ein großer Teil dieser Wahrnehmung keine Grundlage in der Empirie. Mit anderen Worten: Die Deutschen pflegen ein allzu schlechtes Bild von sich selbst.

Bevor Sie weiterlesen, haben Sie die Gelegenheit, selbst auszutesten, ob Ihr Eindruck den Gegebenheiten entspricht. Das IW hat mit seiner Studie (PDF) auch eine interaktive Quiz-Grafik zur Verfügung gestellt. Bewegt man die Maus über die Grafiken, öffnet sich ein Text mit Erläuterungen.

In einer international erhobenen Umfrage wurden auch die Deutschen gefragt: Wie ist das Einkommen in Ihrem Land verteilt? Die Antworten ergaben eine klassische Einkommenspyramide mit einer breiten Unterschicht als Fundament. Nach oben hin verjüngte sich die Pyramide, frei nach der Rechnung, je mehr Einkommen, desto weniger Menschen. Darauf führen die Ökonomen auch die stets virulente Gerechtigkeitsdebatte in Deutschland zurück. Auch im Bundestagswahlkampf wurde hitzig über Steuererhöhungen gestritten.

Die auf empirischen Daten gebaute Einkommenspyramide weicht in ihrer Form jedoch deutlich von der Einschätzung der Deutsche ab. Sie ergibt eine Verteilung mit einem Wohlstandsbauch: Die Mittelschicht ist deutlich größer, die Unterschicht deutlich kleiner als angenommen. Auch in absoluten Zahlen zeigt sich: die Mittelschicht ist größer der Anteil der Geringverdiener. Die Pyramide ist zum Kegel geworden. Nicht 25 Prozent der Deutschen zählen wie angenommen zur ärmsten von sieben Einkommensgruppen, sondern 15.

Vergleich in 24 Ländern

Zum Vergleich hat das Institut auch Daten aus 23 anderen Ländern herangezogen. Das Phänomen der subjektiven Verarmung findet sich dabei auch in anderen Ländern. Insbesondere die Franzosen fühlen sich deutlich schlechter, als es die realen Einkommen hergeben. Mehr als zwei Drittel stuften die Einkommensunterschiede in ihrem Land als zu hoch ein. Auch in Frankreich aber zeigt sich ein Mittelstandsbauch.

Umso auffälliger die USA, in denen sich das Verhältnis umdreht: Die Amerikaner wähnen sich in ihrem Einkommen deutlich näher beieinander, als es tatsächlich der Fall ist. Die Mittelschicht sei in den USA in Wahrheit kleiner und die Unterschicht deutlich größer als von den Bürgern vermutet.

Mit der Wirklichkeit hat Politik manchmal nicht mehr viel zu tun

IW-Direktor Professor Michael Hüther folgert aus den Daten, dass so manche politische Debatte losgelöst von den Fakten durch die Öffentlichkeit irrlichtert: "Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass in politischen Verteilungsdebatten oft nicht die Fakten zählen, sondern die gefühlte Wirklichkeit", so Hüther.

Auch in Deutschland seien Gerechtigkeitsdebatten wie jüngst zum Mindestlohn oder zur Mütterrente kontraproduktiv: "Anstatt ein realistisches Bild zu zeichnen, bestätigen sie die Bevölkerung in ihrer falschen Einschätzung zur Einkommensverteilung", kritisiert der Ökonom.

(pst)
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