Kolumne Karsten Tripp Für immer kurze Beine

Politische Ereignisse haben zwar Auswirkungen auf die Aktienkurse, aber die sind nur von begrenzter Dauer. Kurstreiber sind Wirtschaftswachstum und Firmengewinne. Wenn es in der Politik knallt, sollten Anleger zugreifen.

Früher war unser Verhältnis zur Wahrheit ganz einfach: "Lügen haben kurze Beine", bekamen wir eingebläut. Gemeint war, die Wahrheit kommt schneller ans Licht, als man denkt. Nun mag man glauben, in Zeiten des Internets geht alles so ruckzuck, da kommt niemand mehr auch nur auf die Idee, in wichtigen Fragen die Unwahrheit zu sagen, und Lügen hätten quasi nur noch Stummelfüße. Damit kommt man niemals davon. In letzter Zeit ist uns diese Gewissheit abhanden gekommen. Lügen sind gar keine Unwahrheiten mehr, sondern scheinbar nur noch wahrhaftige Ergebnisse einer alternativen Betrachtung.

An der Börse gibt es nur Kurse, und die sind immer wahr. Von alternativen Kursen hat glücklicherweise noch nie jemand gehört. Sehr wohl aber davon, dass politische Börsen kurze Beine haben. Gemeint ist: Ihr Einfluss hält immer nur kurz an. Seit Jahresbeginn mehren sich jedoch Stimmen, die sagen: Das wollen wir erst noch sehen. So viele Wahlen stehen an, und da, wo das Wahlvolk radikalen Lösungen zuzuneigen scheint - wie 2016 in Großbritannien und den USA -, liegt die Sorge nahe, dass sich das Leben und damit das Wirtschaftsleben allzu radikal ändert. Mit entsprechendem Einfluss auf die Kurse.

Die Erfahrung ist aber eine andere. Die wirklich starken Kurstreiber von Aktien entstammen ohne Ausnahme der Wirtschaftswelt. Aufwärts helfen - wie zuletzt - gutes Wachstum und gute Gewinne, am besten noch gemästet mit billigem Geld. Nach unten geht es nach Finanzkrisen, oft ausgelöst durch Immobilienkrisen, nach Phasen überzogener Investitionen oder wegen explodierender Rohstoffpreise.

Politische Entscheidungen bereiten solchen Antriebskräften bisweilen den Weg. Allerdings sind die Zusammenhänge so lose, dass Profis in der Regel nicht darauf wetten. Schauen wir zurück. Das beherrschende weltpolitische Ereignis der vergangenen 50 Jahre war der Fall des Eisernen Vorhangs, mittendrin die deutsche Vereinigung. Wir waren entzückt, die Börse auch. Ich kann mich an die Freudensprünge des damals blutjungen Dax gut erinnern. Aber ach, der Aufschwung dauerte nicht lange. Denn der Dax ist kein wahrer Patriot. Ein schönes Gefühl allein hält ihn nicht am Laufen. Und da spätestens 1992 klar wurde, dass blühende Landschaften noch viel mehr Arbeit verlangen würden, zogen sich die Kurse wieder auf ihr Anfangsniveau zurück. Und auch sonst: Alle Welt freute sich auf die "Friedensdividende" nach dem Kalten Krieg. Die kam jedoch nie so richtig. Es war erst die "New Economy", die Ende der 90er-Jahre neuen Schwung in die Kurse brachte.

So wird es auch mit allen vermeintlich den Lauf der Welt verändernden Polit-Ereignissen 2017 sein. Der wichtigste Grund: Die meisten Menschen hassen Veränderungen. Weshalb die meisten Regierungen auf Stabilität setzen, ob Demokratie oder Zentralgewalt. Und das Erfolgsgeheimnis aller großen Firmen ist es, sich bestmöglich an die Wirklichkeit anzupassen. So wie Nokia (vom Gummistiefel-Hersteller zum Handy-Weltmarktführer) und Mannesmann (einst Röhren und Stahl, später Mobilfunkriese).

Es gilt, Trend und Schwankungen auseinanderzuhalten. Solange die Wirtschaft wächst, läuft der Dax weiter - und mit ihm die anderen Börsen. Klar, wenn es auf dem politischen Parkett mal knallt, zieht das scheue Tier sich hinter den nächsten Baum zurück. Doch sobald die Luft rein ist, geht es weiter nach vorn. Auch 2017 wird man den Dax dabei beobachten, wie er vor politischen Ereignissen in Deckung geht. Das ist der Moment zuzugreifen. Sonst erwischt man ihn nicht.

DER AUTOR IST CHEFANLAGESTRATEGE PRIVATE BANKING BEI HSBC DEUTSCHLAND

(RP)
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