Wie die Flüchtlinge Deutschland verändern Die Wirtschaft hofft auf neue Fachkräfte

Düsseldorf · Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie. Er sagt, dass die Flüchtlinge eine Lücke bei den Arbeitnehmern schließen können.

Marcel Fratzscher zu Flüchtlingen: Die Wirtschaft  hofft auf neue  Fachkräfte
Foto: Lothar Strücken

Herr Fratzscher, das DIW und andere führende Forschungsinstitute erwarten einen Konjunkturimpuls durch die Flüchtlinge. Um welche Größenordnungen geht es da?

Marcel Fratzscher Wir gehen von knapp zehn Milliarden Euro zusätzlichen Ausgaben des Staates für Flüchtlinge im nächsten Jahr aus. Die zehn Milliarden bedeuten 0,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das Geld geht fast ausschließlich in den Konsum, deshalb wirkt sich das letztlich fast 1:1 auf die Nachfrage und damit auf das Wachstum aus.

Können Flüchtlinge und Zuwanderer helfen, die demografischen Probleme zu mildern?

Fratzscher Aufgrund der demografischen Wende in Deutschland wird das Wirtschaftswachstum in den nächsten 20 bis 30 Jahren in Deutschland deutlich geringer sein als das potenziell mögliche Wachstum. Es wird immer mehr inaktive Menschen geben, die versorgt werden müssen. Das ist auch eine Belastung für die Unternehmen, nicht nur für die Arbeitnehmer, die das zahlen müssen. So gesehen, können Flüchtlinge eine große Lücke schließen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Fratzscher Das kann nur dann funktionieren, wenn Menschen, die nach Deutschland kommen und auch bleiben, so schnell wie möglich auf den Arbeitsmarkt kommen. Da liegt der Schlüssel. Wir haben eine Reihe von sehr gut ausgebildeten Menschen, aber auch viele ohne Berufsabschluss oder mit sehr geringer Ausbildung. Integration bedeutet nicht nur Erwerb der Sprache, sondern heißt auch, bestehende Qualifikation in Deutschland anzuerkennen. Wenn Ausbildung und Weiterbildung funktionieren, wird das langfristig das Potenzialwachstum in Deutschland erhöhen.

Ihr Kollege Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut sagt, wir müssten das Renteneintrittsalter erhöhen, "um die Flüchtlinge ernähren" zu können. Richtig?

Fratzscher Nein, ich halte das für kontraproduktiv und für die falsche Schlussfolgerung. Das Renteneintrittsalter muss nicht erhöht werden, um die Flüchtlinge zu finanzieren. Das ist absolut falsch. Wir haben heute eine außergewöhnlich gute Lage der öffentlichen Haushalte. Wir werden also auch im nächsten Jahr Überschüsse in den öffentlichen Haushalten haben, auch trotz der zusätzlichen Kosten für die Flüchtlinge. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, Menschen steuerlich oder durch eine höhere Lebensarbeitszeit zusätzlich zu belasten.

Hans-Werner Sinn verlangt zudem eine Abschaffung der Mindestlöhne, um mehr Jobs für Geringqualifizierte zu bekommen. Einverstanden?

Fratzscher Ich halte die Forderung, den Mindestlohn abzuschaffen, weil wir nun die Flüchtlinge haben, für absolut kontraproduktiv. Sie ist populistisch und spaltet die Gesellschaft. Es ist brandgefährlich, den einen gegen den anderen auszuspielen. Das gefährdet auch die aktuelle Willkommenskultur. Es geht nicht darum, Flüchtlinge in Jobs mit möglichst geringen Löhnen zu bekommen. Wir sollten uns hier vielmehr das Ziel setzen, dass alle Menschen in den Arbeitsmarkt kommen — und zwar zu dem Mindestlohn, den wir im Augenblick haben.

Sind Bund und Länder und die Wirtschaft bei der Integration der Flüchtlinge schon auf dem richtigen Weg?

Fratzscher Wir brauchen einen Flüchtlingsgipfel mit der Wirtschaft. Der Staat kann die Flüchtlinge materiell unterstützen, kann sie begleiten bei der Integration — aber letztlich spielt die Wirtschaft eine zentrale Rolle. Die größte Zahl der Jobs, in die die Flüchtlinge kommen sollen, werden aus der privaten Wirtschaft kommen. Wir haben heute über 500.000 offene Stellen, wir haben 50.000 bis 60.000 offene Ausbildungsstellen. Die Wirtschaft sucht bereits heute nach Arbeitskräften. Wir sind in einer extrem günstigen Lage, um mit dieser Herausforderung fertigzuwerden. Aber dafür muss natürlich auch die Wirtschaft mit an Bord kommen.

Was halten Sie von dem Vorschlag, Staat und Wirtschaft sollten einen "Deutschlandfonds" gründen, um gemeinsam Sprachkurse und Ausbildungen für Flüchtlinge zu finanzieren?

Fratzscher Man kann es Deutschlandfonds nennen oder auch anders. Wichtig ist, wie man solche Programme vernünftig finanziert. Es muss eine Teilung der Kosten geben. Wenn die Politik nicht mitmacht oder wenn die Wirtschaft nicht mitmacht, dann wird dieser Integrationsprozess scheitern.

Das Interview führten Burkhard Ewert, Uwe Westdörp, Franziska Kückmann und Christof Haverkamp.

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(RP)
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