Gasmarkt vor radikalem Umbruch Millionen Bürger müssen Heizungen umrüsten lassen

Düsseldorf · Weil die Niederlande künftig kein Gas mehr nach Deutschland exportieren, müssen hierzulande neue Pipelines gebaut werden und Millionen Bürger ihre Heizungen und Kochgeräte umrüsten lassen. Große Teile von NRW sind betroffen.

 Viele Bürger in NRW werden ihre Gasheizungen umrüsten lassen müssen.

Viele Bürger in NRW werden ihre Gasheizungen umrüsten lassen müssen.

Foto: dpa-tmn

Als am 16. August 2012 in dem kleinen niederländischen Dorf Huizingen die Erde bebte, da ahnte kaum jemand, welche Folgen der Erdstoß mit einer Stärke von 3,4 auf der Richterskala hierzulande haben würde. Mehrere Backsteingebäude des Ortes in der Region Groningen waren in Mitleidenschaft gezogen worden, Risse in den Fassaden, teils drohte das Mauerwerk nachzugeben.

In dem Gebiet liegt ein 900 Quadratkilometer großes Gasfeld. Die in den 60er Jahren aufgenommene Förderung gilt als Ursache für das 2012er Beben. Proteste machten sich breit. Wenig später entschieden die Niederlande, den Export des wertvollen und ohnehin begrenzten Rohstoffs auslaufen zu lassen. Spätestens 2030 ist Schluss.

Für Deutschland eine fundamentale Entscheidung. Immerhin bezieht die Bundesrepublik pro Jahr 30 Milliarden Kubikmeter Gas aus dem Nachbarland - das entspricht etwa einem Drittel des Gesamtbedarfs. Vor allem im Norden und Westen des Landes wird das niederländische Gas genutzt.

Als Alternative bietet sich das sogenannte LNG-Gas an, das per Tanker aus den USA und den Golfstaaten über Belgien und die Niederlande nach Deutschland gelangen könnte. "Ein aufwendiger Prozess, weil das Gas auf minus 162 Grad heruntergekühlt werden muss", erklärt Bernd Dahmen, Geschäftsführer des Netzbetreibers Thyssengas. "Deshalb hat im Wettbewerb der Quellenländer am Ende wohl vor allem Russland große Chancen, weitere Gasmengen nach Deutschland zu liefern. Dieses wird in erster Linie über die Ostsee zu uns gelangen."

Die neuen Gassorten haben allerdings einen viel höheren Brennwert als das niederländische L-Gas. Und genau dort beginnen die Herausforderungen: Zum einen muss Thyssengas gemeinsam mit der Firma Open Grid Europe (OGE) für die Umstellung auf das potentere H-Gas ein rund 220 Kilometer langes Transportsystem von der belgischen Grenze über Krefeld, den Niederrhein bis nach Legden im Münsterland bauen. Zum anderen werden die örtlichen Netzbetreiber Endgeräte wie Heizungen, Warmwasserbereiter, Gasherde oder Gaskamine bei den Kunden daheim überprüfen, damit sie umgerüstet oder ausgetauscht werden können - und zwar alle.

Deutschlandweit werden heute mehr als fünf Millionen Haushalte mit L-Gas versorgt. In NRW haben etwa 60 Prozent aller Haushalte einen Gas-Anschluss. "In unserer Region sind der Niederrhein, der Großraum Düsseldorf und Köln, Teile des Ruhrgebiets und dazu noch das Münsterland von der Umstellung betroffen", sagt Dahmen.

Die Kunden müssen selbst zunächst nicht aktiv werden. Sie werden in der Regel drei Jahre vor der Umstellung von ihrem örtlichen Versorger informiert. Dann kommt zunächst ein Techniker für eine Bestandsaufnahme der Geräte ins Haus. Etwas später werden diese dann umgerüstet. Die Kosten trägt in der Regel der Versorger.

In einigen wenigen Fällen lassen sich die Geräte nicht nachrüsten und müssen komplett ausgetauscht werden. Die Kosten trägt dann der Kunde, er hat nach geltender Rechtslage einen Anspruch auf einen Zuschuss von gerade einmal 100 Euro. Da die Politik derzeit noch über eine Erhöhung des Zuschusses streitet, rät die Verbraucherzentrale dazu, alle Kaufbelege und auch die Bescheinigungen des Netzbetreibers aufzuheben. Womöglich können Kosten dann später zurückverlangt werden.

Für die neuen Gas-Leitungen, Verdichter und anderen Anlagen rechnen OGE und Thyssengas im ersten Schritt mit Kosten in Höhe von rund 600 Millionen Euro. Später wird noch ein weiterer Verdichter in Legden für etwa 160 Millionen Euro notwendig sein. Hinzu kommen die Kosten für die Umrüstung der Endgeräte. "All dies wird über die Netzentgelte letztlich wieder beim Gaspreis des Kunden landen", sagt Dahmen. "Wir reden hier aber über eine Mehrbelastung von maximal zehn Euro im Jahr."

Hauptproblem bei der Umstellung ist nach Bekunden von Thyssengas der straffe Zeitplan. "Ziel ist es, bis 2029 komplett umzustellen. Eine Monster-Aufgabe", sagt Dahmen. Wegen des durch die Niedrigzinsen befeuerten Baubooms seien Fachleute rar gesät. "Um in den Kellern die Geräte anzupassen, benötigt man aber fähige Installateure."

Realistisch sei es, dass die Versorger pro Jahr 500.000 Endgeräte umstellen könnten. "Wir versuchen aktuell, die Umstellungskapazität zu steigern." Im niederrheinischen Rees beginnt in diesen Tagen die Umrüstung: Gelsenwasser und die dortigen Stadtwerke beginnen mit 10.000 Geräten. Eine Art Pilotprojekt.

"Eine weitere Herausforderung sind Planung und der Leitungsbau selbst. Wobei die Planung mehr Zeit in Anspruch nimmt als der spätere Bau des Transportsystems", sagt der Thyssengas-Chef. Zuerst werde mit den betroffenen Kommunen, allen Trägern öffentlicher Belange und natürlich den Genehmigungsbehörden ein grober Leitungsverlauf ermittelt. Dazu wurden von der OGE mögliche Trassen auf rund 10.000 Quadratkilometern geprüft. Derzeit werde das Planfeststellungsverfahren von der OGE vorbereitet. Dabei wird der spätere Verlauf der Leitung sozusagen "grundstücksscharf" festgelegt. Dazu muss mit jedem betroffenen Eigentümer darüber verhandelt werden, wie und zu welchen Bedingungen die Leitung in seinem Land verlegt werden kann.

"Sorgen bereiten mir in diesem Zusammenhang Bürgerinitiativen, die eine sachliche Diskussion vermissen lassen und mit emotionalen Aussagen Ängste schüren", kritisiert Dahmen. In Drevenack nahe Hünxe haben sich beispielsweise besorgte Bürger zu einer Initiative zusammengeschlossen, die einen Abstand von 350 Metern zur Wohnbebauung fordert und vor der "Todestrasse" warnt. "Das sind unsachliche Aussagen, die mich als Techniker ärgern", sagt Dahmen. "Wir sprechen über unterirdisch verlegte Leitungen aus Spezialstahl, die sicher sind." Er sei dennoch zuversichtlich, eine Lösung hinzubekommen.

"Klar ist: Wir brauchen Versorgungssicherheit", sagt Dahmen. Das verlangten nicht nur die Bürger im Winter, sondern auch die Wirtschaft. "Wenn zum Beispiel in der Glasindustrie die Gasversorgung unterbrochen wird, dann sind auf einen Schlag ganze Standorte gefährdet."

(maxi)
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