Düsseldorf Schlipsfreie Zone

Düsseldorf · In den Vorstandsetagen grassiert der Jugendwahn. Alle wollen hip und angesagt sein. Das "Sie" verschwindet, und Krawatten auch, wie jetzt bei Aldi Nord. Mancher findet das allerdings gar nicht so toll - Krawattenhändler zum Beispiel.

Bezüglich der Kleiderordnung gab es bei Thyssenkrupp früher klare Gepflogenheiten: Unter Aufsichtsratschef Gerhard Cromme war es Usus, dass Vorstände handgenähte Schuhe und maßgeschneiderte Anzüge mit Einstecktuch trugen, bei denen die Manschetten zwei Zentimeter unter den Anzugärmeln hervorschauten. Vollbärte waren nicht gern gesehen. Wer was werden wollte, kam glatt rasiert. Seit Crommes Abgang hat sich das Bild gewandelt. Konzernchef Heinrich Hiesinger lässt sich in wallenden Gewändern beim Tai-Chi ablichten, bei offiziellen Anlässen bleibt die Krawatte auch mal im Schrank.

Hiesinger befindet sich in guter Gesellschaft. Überall werden in Vorstandsetagen die obersten Knöpfe des Hemds geöffnet, verschwindet der Doppelte Windsor. Vor wenigen Tagen kündigte Alid Nord eine Lockerung der Kleiderordnung an. Der Handelskonzern schafft die Krawattenpflicht ab. Damit setze man die Modernisierungsstrategie konsequent in sämtlichen Bereichen um, erklärte eine Sprecherin.

Die Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle, Topmanager haben Angst, den Anschluss zu verlieren. Binnen weniger Jahre werden aus Start-ups Weltkonzerne - Facebook, Google, Airbnb. Mit ihrem Siegeszug taucht ein neuer Unternehmertyp auf. Facebook-Chef Mark Zuckerberg trägt selbst zu offiziellen Anlässen graue Shirts und Kapuzenpullis ("Hoodies"). Die krawattenlosen Hemden von Airbnb-Mitgründer Brian Chesky können sein Krafttraining nicht verbergen. Selbst die Ü50-Manager Tim Cook (Apple) und Jeff Bezos (Amazon) sieht man fast nie mit Krawatte.

Im Silicon Valley sind alle locker, lässig, hip. Wer da als Unternehmen nicht auf der Strecke bleiben will, muss mitziehen. Also beginnen auch in deutschen Vorstandsetagen Lockerungsübungen. Hektisch werden Bürowände eingerissen, flache Hierarchien ein- und Krawatten ausgezogen. Telekom-Chef Tim Höttges kommt im Pulli ins Büro, Innogy-Chef Peter Terium läuft oft ohne Krawatte herum und lässt sich von vielen Mitarbeitern duzen. Siemens-Chef Joe Kaeser, früher meist im Maßanzug mit Krawatte zu sehen, trat im Sommer häufiger in himmelblauen Freizeithosen auf, den Hemdkragen zwei Knöpfe weit offen. Otto-Lenker Hans-Otto Schrader ging bei seinen 53.000 Mitarbeitern noch weiter und bot allen das Du an. Er wolle damit einen "Kulturwandel 4.0" vorantreiben.

Die Erklärung für das neue Erscheinungsbild lieferte Walter Sinn, Deutschland-Geschäftsführer der Unternehmensberatung Bain: "Wo sich Geschäftsmodelle radikal wandeln, müssen es auch die CEOs tun." Für die Führungsspitze des Autozulieferers Conti ist der durch den Krawattenverzicht dokumentierte Kulturwandel ein Versuch, die junge Generation anzusprechen.

Die Grenze zwischen lässiger Selbstinszenierung und peinlichem Heranschmeißen an eine junge Zielgruppe indes ist schmal. Gisbert Rühl hat keine Lust, auf der falschen Seite zu landen: "Ich bin 57, da muss ich mich rein äußerlich nicht den 30-Jährigen anpassen." Es sei wichtig, authentisch zu bleiben. Rühl führt den Stahlhändler Klöckner & Co. Mehr Old Economy geht nicht. Viele Kunden bestellen noch per Fax. Doch seit einem Besuch im Silicon Valley krempelt Rühl das Unternehmen um. Ständig ist er auf Start-up-Gipfeln zu sehen. Den Anzug lässt er trotzdem an. "Ich würde auf geschäftlichen Terminen nicht in Jeans herumlaufen. Wenn in der Berliner Start-up-Szene sogenannte Pizza-Meetings stattfinden, bin ich manchmal der Einzige, der einen Anzug trägt." Ein Problem sei das nicht: "Den Gründern ist es ganz egal." Auch Oliver Burkhard, Personalvorstand bei Thyssenkrupp, glaubt, dass man den Hipster-Wahn nicht übertreiben darf: "Wir werden nicht auf Sitzsäcken liegen und mit dem Laptop auf den Knien arbeiten." Nur weil man für Start-up-Legenden wie Elon Musk und den Elektroautobauer Tesla produziere, soll das wohl heißen, müsse man nicht die Firmenkultur über den Haufen werfen.

Andere finden den Krawattenverzicht sogar schädlich: Als Daimler beschloss, dass sich im Vorstand jeder kleiden könne, wie er wolle, verzichteten erst einige auf Schlips oder Anzug, irgendwann auch viele weitere Mitarbeiter. Darauf habe ein großes Bekleidungshaus in Stuttgart angemerkt, dass der Umsatz an Anzügen und Krawatten zurückgegangen sei.

Ähnliches hat man in Krefeld beobachtet. "Natürlich hat die Krawatte in Deutschland an Umsatz verloren", sagt Hans-Joachim Ploenes, Geschäftsführer des Krawattenherstellers Ploenes. "Das fing mit der Einführung des Casual Friday vor rund zehn Jahren an." Als er 1956/57 angefangen habe, habe es in Deutschland noch 142 Krawattenfirmen gegeben; heute seien es noch etwa zehn, sagt Ploenes. Und die Zahl der verkauften Krawatten sei seit Anfang der 90er-Jahre um zwei Drittel auf elf Millionen gesunken. Ploenes kann die Gründe, warum Vorstände auf den Schlips verzichten, nicht nachvollziehen: "Wenn ich Gruppenfotos von Vorständen sehe, auf denen niemand eine Krawatte trägt, wirkt das alles total uniform. Mit einer Krawatte kann man sich abheben."

Viele junge Menschen haben das erkannt. Hipster tragen plötzlich Krawatte. Das eigentliche Problem seien die 60-Jährigen, sagt Ploenes: "Die haben jahrelang gesehen, wie locker ihre Söhne ohne Krawatte aussehen, und wollen das dann auch. Dabei wird der Bauch nicht weniger, der Hals nicht schöner. Die sähen mit geschlossenem Kragen und Krawatte viel besser aus."

(frin)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort