Karlsruhe Spartengewerkschaften in Gefahr

Karlsruhe · Vor dem Bundesverfassungsgericht werden seit gestern elf Klagen gegen Andrea Nahles' Tarifeinheits-Gesetz verhandelt. Der Vorsitzende Richter spricht von "juristischem Neuland".

Es war ein ganz besonderes Familienfoto, das gestern im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichtes entstand: Fein säuberlich aufgereiht standen da einträchtig die Chefs mehrerer deutscher Spartengewerkschaften nebeneinander. Und auch wenn die Funktionäre fröhlich um die Wette in die Kameras strahlten, war es für sie kein lustiger Ausflug nach Karlsruhe. Gestern ging es für die Chefs der Vereinigung Cockpit, des Marburger Bundes und der Unabhängigen Flugbegleiter-Organisation (Ufo) um nicht weniger als die Existenz ihrer Organisationen.

Verhandelt wurden vor Deutschlands höchstem Gericht elf Klagen gegen das von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) verantwortete Gesetz zur Tarifeinheit. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich das rechtliche Prinzip, wonach pro Unternehmen nur ein Tarifvertrag angewendet werden darf. Bis 2010 war dies - auch ohne entsprechendes Gesetz - allgemeine Rechtsauffassung. Doch in einem bahnbrechenden Urteil von 2010 schob das Bundesarbeitsgericht in Erfurt der Tarifeinheit einen Riegel vor. Es sah in ihr eine unzulässige Benachteiligung eben jener kleinen Spartengewerkschaften. Und deren Arbeit wird schließlich im Grundgesetzartikel 9 Absatz 3 garantiert.

Der Aufschrei - insbesondere in den Reihen der Wirtschaft - war groß. Viele Arbeitgeber warnten davor, die gefürchteten "englischen Verhältnisse" könnten Einzug auch in Deutschland halten. Ein Land im Dauerstreikzustand - so sahen die Horrorszenarien aus. Entsprechend schnell ging die große Koalition an die Arbeit, ein Gesetz zur Tarifeinheit zu erlassen. Seit 2015 ist es in Kraft.

Konkret sieht Nahles' Gesetz vor, dass bei zwei konkurrierenden Gewerkschaften in einem Betrieb derjenige Tarifvertrag angewendet wird, der von der mitgliederstärkeren Gewerkschaft geschlossen wurde. Die andere kann sich dann nur noch dem anschließen. Ist nicht klar, welche Organisation die Mehrheit vertritt, zählt ein Notar die Mitglieder.

Bis heute musste das Gesetz kein einziges Mal angewandt werden. Bei der Bahn zweifelt Personalvorstand Ulrich Weber selbst an der Notwendigkeit einer solchen Norm. Deshalb sicherte der Manager den konkurrierenden Gewerkschaften im eigenen Hause, der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft sowie der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, von sich aus zu, auch weiterhin mit beiden Parteien Tarifverhandlungen zu führen.

Einzig bei der Lufthansa-Tochter Eurowings könnte das Gesetz demnächst zum Tragen kommen: Dort streiten sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und Ufo um den Abschluss eines Tarifvertrags für die Flugbegleiter.

Und unabhängig von der bisherigen Anwendung empfinden die Kläger das Gesetz als echte Bedrohung: "Es würde den Marburger Bund schwer beeinträchtigen, wenn angestellte Ärzte in ihm bloß noch einen Verein von Bittstellern sehen würden, der bei Tarifverhandlungen wieder am Katzentisch der Mehrheitsgewerkschaft Platz nehmen darf", sagte der Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke. Er stößt sich vor allem am Betriebsbegriff. Zwar vertritt der Marburger Bund klar die Mehrheit der Ärzte. Diese machten aber nur 15 Prozent der Beschäftigten eines Krankenhauses aus. Eine konkurrierende Gewerkschaft müsse lediglich ein Fünftel der verbleibenden 85 Prozent der Belegschaft organisieren, um im Konfliktfall die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder zu beanspruchen. "Im Regelfall wird der Marburger Bund die Minderheitsgewerkschaft sein", so Henke.

Bundesarbeitsministerin Nahles verteidigte ihr Gesetz. Es solle "Anreize für Kooperation und Abstimmung" schaffen. Es sei bedenklich und auch nicht im Interesse der Arbeitnehmer, wenn Gewerkschaften mehr miteinander stritten als mit dem Arbeitgeber und das Belegschaften entzweie.

Der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhoff sprach davon, dass mit dem Verfahren juristisches Neuland betreten werde. Die Verhandlung wird heute fortgesetzt. Ein Urteil fällt frühestens in in drei Monaten.

(maxi)
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