Berlin/Düsseldorf Steuern: So wirkt die "kalte Progression"

Berlin/Düsseldorf · Die heimliche Steuererhöhung bringt dem Bund jedes Jahr zusätzliche Einnahmen in Milliarden-Höhe. Das belastet vor allem geringe und mittlere Einkommen. Ökonomen und Opposition fordern die Regierung zum Handeln auf.

Es ist ein technokratischer Begriff für einen Vorgang, der den Bürgern jährlich Milliarden nimmt: "Kalte Progression" wird ein Effekt bei der Einkommenssteuer genannt, der eigentlich mit "heimlicher Steuererhöhung" besser umschrieben ist.

Warum heimliche Steuererhöhung? Weil die "kalte Progression" stillschweigend dafür sorgt, dass nach einer Einkommenssteigerung weniger im Geldbeutel ankommt als vor der Lohnerhöhung. Das funktioniert so: Ein Arbeitnehmer bekommt als Ausgleich für Preissteigerungen (Inflation) mehr Geld. Das führt aber nicht dazu, dass er sich mehr kaufen kann als früher, da das Geld ja weniger wert ist. Weil er aber nominal mehr Geld bekommt, steigt aufgrund des progressiven Einkommensteuersystems der Steuersatz des Arbeitnehmers - und zwar für das gesamte Einkommen. Er zahlt nun mehr Steuern als früher. Das frisst Teile des Inflationsausgleichs auf, er kann sich von seinem verbliebenen Gehalt weniger kaufen.

Was ist die Ursache der "kalten Progression"? Mit der Inflation und den damit steigenden Einkommen müssten auch die Tarifgrenzen bei der Einkommensteuer verschoben werden. Das war zuletzt 2010 der Fall. Der Staat verzichtet seither darauf - und kassiert ab. Ökonom Thilo Schaefer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fordert daher automatische Anpassungen per Gesetz.

Wie viel kassiert der Staat? Wie stark sich der Effekt bemerkbar macht, darüber gibt es höchst unterschiedliche Annahmen. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler sollen so von 2014 bis 2017 insgesamt 55,8 Milliarden Euro in die Staatskassen fließen, allein 2017 sollen es 18,7 Milliarden sein. Die Behörde von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kalkuliert laut einem Bericht für den Zeitraum 2014 bis 2018 hingegen mit nur etwa 28 Milliarden Euro.

Wen trifft die "kalte Progression"? Am spürbarsten die geringeren und mittleren Einkommen, weil der Anteil der "kalten Progression" an der Gesamtbelastung am größten ist. Das IW hat 2013 berechnet, dass bei Alleinstehenden mit Jahreseinkommen zwischen 10 000 und 20 000 Euro die "kalte Progression" 45 Prozent der Steigerung der Einkommenssteuer ausmacht. Der Anteil sinkt sukzessive über die Gehaltsklassen bis zu den Großverdienern über 500 000 Euro, wo er nur zwei Prozent ausmacht - auch wenn die Summe der Belastung am höchsten ist. Im Schnitt beträgt der Anteil der "kalten Progression" an der Einkommensteuersteigerung 23 Prozent. "Gerade jene werden belastet, die auf dem Weg zum guten Verdiener sind. Das ist die leistungsstärkste Gruppe, die am meisten zur Wertschöpfung beiträgt", sagt Franz Plankermann, Vize-Präsident der Steuerberaterkammer Düsseldorf. "Im staatsbürgerlichen Sinne halte ich die ,kalte Progression' für ungerecht."

Was fordert die Opposition? Die Linke will die Abschaffung der "kalten Progression" parlamentarisch in Gang bringen. "Wir werden das Thema im Bundestag auf die Tagesordnung setzen", sagte Parteichef Bernd Riexinger unserer Zeitung. Es sei ein Armutszeugnis, dass die große Koalition nicht einmal den Einstieg in eine Gerechtigkeitswende zustande bringe. "Die Abschaffung der ,kalten Progression' ließe sich mit ein wenig Mut aus der Portokasse finanzieren", erklärte Riexinger. Wenn die Mövenpick-Steuer abgeschafft und 500 Steuerprüfer für die gezielte Kontrolle der Vermögens- und Einkommensmillionäre abgestellt würden, wäre das Geld bereits beisammen, so Riexinger.

(may-)
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