Berlin Studie: Pflegebedürftige erhalten zu viele Medikamente

Berlin · Fast ein Drittel aller Pflegeheimbewohner bekommt demnach Antidepressiva - zum Teil in deutlich überhöhten Mengen.

Ein Teil der rund 800.000 Pflegeheimbewohner in Deutschland erhält offenbar deutlich zu viele und für diesen Zweck nicht zugelassene Psychopharmaka. Besonders betroffen seien die rund 500.000 Demenzkranken, berichtet die Krankenkasse AOK. Sie beruft sich auf eine vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Studie der Universität Witten/Herdecke. Demnach bekommen 40 Prozent der Bewohner mit Demenz dauerhaft Mittel zur Ruhigstellung (Neuroleptikum), bei den Heimbewohnern ohne Demenz sind rund 20 Prozent betroffen. Kaum Unterschiede zwischen Pflegebedürftigen mit oder ohne Demenz gibt es bei Bewohnern, die ein Antidepressivum erhalten, hier sind 30 Prozent der Bewohner betroffen.

"Der breite und dauerhafte Neuroleptika-Einsatz bei Pflegeheimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien", kritisierte Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke. Neuroleptika würden zur Behandlung von krankhaften Wahnvorstellungen, sogenannten Psychosen, entwickelt. "Nur ganz wenige Wirkstoffe sind zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen, und dann auch nur für eine kurze Therapiedauer von sechs Wochen", so Thürmann. Die Pflegekräfte bestätigen laut AOK-Report ein hohes Ausmaß an Psychopharmaka-Verordnungen.

Bei einer Befragung von 2.500 Pflegekräften gaben die Befragten an, dass im Durchschnitt bei mehr als der Hälfte der Bewohner ihres Pflegeheims Psychopharmaka eingesetzt werden. Zwei Drittel der Betroffenen erhielten demnach die Verordnungen auch länger als ein Jahr. 82 Prozent der Pflegekräfte halten das für angemessen. Die AOK erklärte dazu, das Problembewusstsein der Pflegekräfte müsse offensichtlich geschärft werden. Auch müssten nicht-medikamentöse Ansätze stärker eingesetzt werden. Laut Umfrage sagten 56 Prozent der Befragten, dass Zeitdruck die Umsetzung solcher Verfahren beeinträchtige oder verhindere. Nach den Worten des Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, ist der kritische Umgang mit Psychopharmaka eine Teamaufgabe von Ärzten, Heimbetreibern, Pflegekräften und Apothekern. Litsch forderte ein Nachschärfen der Kooperationsvereinbarungen zwischen Pflegeheimen und Vertragsärzten auf Bundesebene, denn jede relevante Medikamentenabgabe in Pflegeheimen ist auf eine ärztliche Verschreibung zurückzuführen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung wollte sich gestern nicht zu der Studie äußern.

(kna/es)
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