Ulrich Grillo im Interview "Flüchtlingsdebatte? Ein guter Anlass, um über den Mindestlohn nachzudenken"

Düsseldorf · Das Samstags-Interview mit Industriepräsident Ulrich Grillo (56) zu den Folgen der Flüchtlingskrise, der Schwäche der Regierung und der Reform der Rente mit 63.

 Industriepräsident Ulrich Grillo.

Industriepräsident Ulrich Grillo.

Foto: afp, agz

2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Der Andrang hält an. Kann Deutschland das verkraften?

Grillo Schutzbedürftigen Menschen Hilfe zu gewähren bleibt unsere Pflicht. Dennoch müssen wir aufpassen, dass wir die Gesellschaft nicht überfordern. Einen weiteren Zuzug in gleichem Tempo können wir sicherlich nicht verkraften. Die EU muss die Flüchtlingsströme besser steuern.

Österreich schließt nun seine Grenzen. Ist das ein sinnvoller Weg?

Grillo Die offenen Grenzen innerhalb der EU sind ein hohes Gut, sie machen die Vorteile Europas für alle spürbar — auch und gerade in den Unternehmen. Ziel muss es sein, die Außengrenzen der EU effektiv zu kontrollieren. Je besser das gelingt, desto weniger Druck gibt es an den nationalen Grenzen. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Deutschland seine Grenzen zeitweise viel stärker als heute kontrollieren muss.

Grenzschließung als letztes Mittel?

Grillo Ich hoffe nicht. Das wäre schmerzlich für die deutsche Wirtschaft, weil Deutschland als Exportnation besonders von offenen Grenzen profitiert.

Was würden Grenzschließungen für die Wirtschaft bedeuten?

Grillo Grenzschließungen würden uns in Europa alle hart treffen. 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in Länder innerhalb der EU, diese würde durch neue Schlagbäume behindert. Umso wichtiger ist es, wirksamere Wege zur Senkung der Flüchtlingszahlen zu finden.

Sollte Deutschland Flüchtlingen das Taschengeld streichen, so wie es andere Länder tun?

Grillo Auf jeden Fall darf es nicht sein, dass Flüchtlinge mehrfach Taschengeld beziehen, weil sie sich in mehreren Bundesländern registrieren lassen. Was der Staat geregelt hat, muss er auch durchsetzen. Ebenso muss der Staat abgelehnte Asylbewerber konsequenter abschieben.

Die Koalition ist über den Kurs in der Flüchtlingsfrage zerstritten. Enttäuscht Sie das?

Grillo Die Kanzlerin hat gesagt, große Koalitionen seien dazu da, große Probleme zu lösen. Das erwarte ich nun in der Flüchtlingsfrage. Statt sich öffentlich zu streiten, sollte die Politik handeln. Eine Regierung, die bei so einer zentralen Herausforderung öffentlich zerstritten auftritt, schwächt sich selbst — auch gegenüber ihren europäischen Partnern. Das schadet dem Land.

Ist Merkel geschwächt?

Grillo Ich habe sie gerade sehr stark erlebt. Ich finde es konsequent, dass die Kanzlerin ihre Position in der Flüchtlingsfrage durchhält und verteidigt. Doch dauerhaft lösen kann sie die Flüchtlingskrise nur gesamteuropäisch.

Was sollte die Politik tun, damit Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt integriert werden?

Grillo Wegen fehlender Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen sind die wenigsten Flüchtlinge direkt im Betrieb einsetzbar. Daher sollten wir die Flüchtlingsdebatte zum Anlass nehmen, um über Hemmnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt und qualifizierte Zuwanderung zu reden.

Sollten wir den Mindestlohn für Flüchtlinge senken?

Grillo Nein, jede Form von Ungleichbehandlung würde die Spannungen im Land weiter anheizen. Doch die Flüchtlingsdebatte ist ein guter Anlass, um insgesamt über eine Reform des Mindestlohns nachzudenken: Das könnte Flüchtlingen ebenso helfen, in den Job zu kommen, wie deutschen Langzeitarbeitslosen.

Zur Finanzierung der Flüchtlingskosten hat Finanzminister Schäuble eine europaweite Benzinsteuer vorgeschlagen. Gute Idee?

Grillo Nein, angesichts eines Haushaltsüberschusses von zwölf Milliarden Euro sollte die Politik nicht neue Steuern anregen. Die Belastung für Unternehmen und Bürger ist hoch genug. Eine zusätzliche Benzinsteuer brauchen wir in Deutschland nicht.

Aber ist es nicht ehrlich von Schäuble, dass er den Bürgern sagt: Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wird Milliarden kosten?

Grillo Auf uns kommen Milliardenkosten zu. Doch wenn die Einnahmen dafür künftig nicht reichen, sollten wir darüber sprechen, welche Ausgaben wir senken können.

Zum Beispiel die Ausgaben für die Mütterrente oder die Rente mit 63 ...

Grillo Man muss aufpassen, keine Themen zu verknüpfen, die nichts miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft hat sich immer gegen die Rente mit 63 ausgesprochen. Sie wird die öffentlichen Haushalte belasten, und sie entzieht den Unternehmen viele hochqualifizierte Fachkräfte. Die sind ohnehin schon knapp. Deshalb hätte ich nichts dagegen, wenn es eine Debatte über den Zweck der Rente mit 63 gibt.

Das zweite große Thema, das die Industrie umtreibt, ist die Energiepolitik. Die Bundesumweltministerin will bis 2050 aus der Kohle aussteigen.

Grillo Wir können bis 2050 nicht gleichzeitig aus Kohle, Gas und Kernkraft aussteigen. Das ist illusorisch. Noch ist die Speichertechnologie nicht so weit, dass wir allein auf erneuerbare Energien setzen könnten. Nicht nur das Industrieland Deutschland braucht eine sichere Stromversorgung. Jeder private Haushalt erwartet das.

Wollen Sie der letzte Kohle-Fan in Deutschland sein? Selbst RWE spricht von einem "sterbenden Geschäft".

Grillo Ja natürlich, die Zukunft der Kohle ist begrenzt. Aber dafür sollen Preismechanismen sorgen — und kein politisch fixierter Abschaltplan. Für das Weltklima ist es unerheblich, jetzt zu definieren, in exakt welchem Jahr wir national aus der Kohle aussteigen. Deutschland ist nur für drei Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich — Tendenz fallend. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht vom Vorreiter zum Einsiedler werden. Wir müssen in der Energiepolitik nach vielen Experimenten und irrigen Prognosen endlich eine Lektion lernen: Statt politischem Aktionismus brauchen wir langfristige Verlässlichkeit.

Wer soll die organisieren?

Grillo Alle Betroffenen müssen an einen Tisch. Und auf den Tisch gehören alle Fragen zu Standorten, Arbeitsplätzen, Versorgungssicherheit und Klimaschutz. Aber ich sehe momentan drängendere Themen in der Energiepolitik. Es geht für Unternehmen gerade darum, dass es in Deutschland sicheren und bezahlbaren Strom auch in zwei, drei Jahren gibt. Um 2050 brauchen wir uns heute gewiss noch nicht zu kümmern.

Sie sind selbst Mitglied der Atomkommission. Welche Mehrbelastungen hat der Bürger zu erwarten?

Grillo Die Betreiber von Kernkraftwerken stehen zu ihrer Verantwortung. Sie haben Milliarden-Rückstellungen gebildet, die nach Ansicht unabhängiger Wirtschaftsprüfer für die absehbaren Kosten des Ausstiegs ausreichen. Wenn es künftig Zusatzkosten gibt, die nicht von den Unternehmen, sondern von der Politik verursacht werden, wird dafür allerdings der Staat auch aufkommen müssen.

Also die Endlager-Kosten? Schließlich ist es der Staat, der mit der Bestimmung des Standortes nicht vorankommt.

Grillo Die Kommissionsberatungen sind vertraulich, zu Einzelheiten kann ich nichts sagen. In einigen Wochen wird die Kommission ihre Empfehlungen präsentieren.

Atomausstieg, Braunkohle, Ökostrom - sämtliche Energieträger werden subventioniert. Das hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun.

Grillo Das muss sich ändern. In der Tat ist Strom bei uns zu teuer, in anderen Ländern kostet er oft nur die Hälfte. Die hohen Energiekosten schaden uns im internationalen Wettbewerb. In Teilen meines Unternehmens ist Strom für bis zu 30 Prozent der Kosten verantwortlich. Grund ist vor allem die teure Förderung von Ökostrom. Sein Anteil an der Gesamtmenge wächst zu schnell, die Netzengpässe nehmen zu. Die angestrebte Kostenkontrolle hat in der Praxis versagt. Umso wichtiger ist eine durchgreifende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes EEG.

Was muss geschehen?

Grillo Die Politik muss auf die Notbremse ziehen und endlich die Umlage reduzieren — aktuell 24 Milliarden Euro im Jahr, die überwiegend die Unternehmen tragen. Wir brauchen viel mehr Wettbewerb. Die Garantie von Mengen und Preisen beim Ökostrom führt zu hohen Belastungen und gehört abgeschafft. Nötig ist eine konsequente Mengen- und Kostenkontrolle im EEG.

Sind Sie insgesamt enttäuscht von der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung?

Grillo Insgesamt sind wir enttäuscht, dass die Sozialpolitik bisher eine so große Rolle gespielt hat. Die Kanzlerin und der Bundeswirtschaftsminister setzen sich für TTIP ein, er will die EEG-Reform klug angehen, das gefällt mir. Dagegen kommen die von Arbeitsministerin Nahles jetzt geplanten Verschärfungen bei Werkverträgen und Leiharbeit zu einem unmöglichen Zeitpunkt. Sie gehen weit über den Koalitionsvertrag hinaus. Und der hatte schon zu viel sozialpolitische Schlagseite. Es darf keine weiteren Belastungen für unsere Unternehmen geben.

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