Ungleichheit in Deutschland Wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich wirklich ist

Berlin · Die Vermögensunterschiede hätten in Deutschland zugenommen, sagen die Gewerkschaften. Bundesregierung und Ökonomen widersprechen: Die Schere zwischen Arm und Reich habe sich nicht weiter geöffnet. Was denn jetzt?

 Obdachloser im Winter (in Hannover, Archiv): Werden die Armen immer ärmer - und die Reichen immer reicher?

Obdachloser im Winter (in Hannover, Archiv): Werden die Armen immer ärmer - und die Reichen immer reicher?

Foto: dpa, pst ink

Diese Nachricht sorgte am Montag für Wirbel: Die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland sei in den vergangenen zehn Jahren größer geworden, berichtete die "Passauer Neue Presse" unter Berufung auf Daten des Statischen Bundesamtes, die schon seit Mai 2015 auf der Internetseite des Bundesarbeitsministeriums stehen.

Das Haus von Ministerin Andrea Nahles (SPD) widersprach umgehend und erklärte, die Vermögensungleichheit habe gerade in den letzten Jahren nicht zugenommen. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das in Berlin mit dem Sozio-Oekonomischen Panel (SOEP) die deutschlandweit beste Datenbank zu dem Thema auswertet, kann eine zunehmende Vermögensungleichheit nicht bestätigen.

Die Ergebnisse widersprechen sich

Das Statistische Bundesamt bedient sich einer so genannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), um alle fünf Jahre herauszufinden, ob die Vermögensverteilung sich verändert hat. Nach dieser EVS hat die Ungleichheit tatsächlich zugenommen. Demnach verfügten die reichsten zehn Prozent der Haushalte im Jahr 2013 über 51,9 Prozent des Nettovermögens, zehn Jahre zuvor waren es noch 49,4 Prozent. Den ärmeren 50 Prozent der Haushalte gehörten demnach 2013 nur ein Prozent des gesamten Nettovermögens, 2003 waren es dagegen noch 2,6 Prozent.

Dagegen kommt das SOEP aus Berlin zu ganz anderen Ergebnissen: Demnach besaßen 2012 die reichsten zehn Prozent der Haushalte 53,4 Prozent des gesamten Nettovermögens, zehn Jahre zuvor aber noch 55,7 Prozent. Das obere Zehntel ist demnach etwas ärmer geworden. Demgegenüber wurde die ärmere Hälfte der Haushalte minimal reicher: Ihr Vermögensanteil stieg von 1,4 auf 1,5 Prozent.

Die unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich mit verschiedenen Methoden der Datenerhebung erklären: In der EVS sind Betriebsvermögen nicht enthalten, daher wird das tatsächliche Vermögen der Reichsten in dieser Statistik überzeichnet. Zudem fließen in die EVS nicht die Vermögen der Haushalte ein, die ein monatliches Netto-Einkommen von über 18.000 Euro haben. "Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist weniger gut geeignet, Vermögensunterschiede festzustellen. Sie klammert Betriebsvermögen und Haushalte mit besonders hohen Nettoeinkommen aus", sagt SOEP-Experte Markus Grabka.

Drei Gründe für wachsende Ungleichheit

Er verlässt sich lieber auf seine eigenen Daten und ist daher sicher: "Die Vermögensungleichheit in Deutschland hat zwischen 2002 und 2012 nicht zugenommen. Wir können seit 2002 keine signifikante Veränderung in den Daten erkennen. Auch nach der Finanzkrise wuchs die Ungleichheit bislang nicht."

International sieht es anders aus. Nach Daten der Industrieländer-Organisation OECD wurde die Vermögensungleichheit nach der Überwindung der Finanzkrise 2008/2009 wieder größer. "Wir sind eines der wenigen Länder weltweit, bei dem im Nachgang der Finanzkrise die Ungleichheit nicht zugenommen hat", sagt Grabka. Aufsehen erregte vergangene Woche eine kaum nachprüfbare, aber interessante Statistik der Welthilfsorganisation Oxfam: Demnach besitzen die 62 reichsten Menschen der Welt genauso viel wie die gesamte Hälfte der Menschheit.

Frank Bsirske fordert hohe Tarifabschlüsse

Es gibt drei Gründe für wachsende Ungleichheit: Unternehmensgewinne steigen schneller als Arbeitseinkommen, obere Lohneinkommen steigen schneller als untere und viele Staaten versäumen es, die ungleiche Entwicklung durch Steuern zu korrigieren. In Deutschland fordern SPD, Grüne und Linke eine Vermögensteuer und höhere Steuern für Besserverdienende.

"Deutschland ist seit Jahren eine Steueroase für Reiche. Die neuen Statistiken sind ein weiterer Beweis für die ungerechte Steuerpolitik", sagt auch Frank Bsirske, Chef der Gewerkschaft Verdi. "Die Kommunen gehen am Stock, öffentliche Dienstleistungen werden gekürzt, das Bildungssystem erodiert, während den Vermögenden Milliarden Euro hinterher geworfen werden."

Der Verdi-Chef fordert daher hohe Tariflohnabschlüsse im laufenden Jahr. "Ein Mittel gegen die anhaltende Umverteilung von unten nach oben sind kontinuierlich gute Tarifabschlüsse. Das gilt auch für 2016", sagt Bsirske.

DIW-Experte Grabka plädiert alternativ für mehr staatliche Förderung der privaten Vermögensbildung: "Wir brauchen neue Instrumente der Vermögensbildung für alle. Hier könnte ein Staatsfonds ähnlich wie der in Norwegen Vorbildcharakter haben. Dessen Rendite lag seit 1998 immer über fünf Prozent. Hier sollte jeder die Möglichkeit haben in einen solchen Fonds zu investieren", sagt Grabka.

(mar)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort