Analyse Die USA gegen Volkswagen

Washington · Für Unternehmen, auch für Weltkonzerne, können Prozesse in den Vereinigten Staaten zum Horror werden. Jetzt sitzt VW wegen des Abgasskandals auf der Anklagebank. Die Kostenschätzungen erreichen ungeheuerliche Höhen.

Als Michael Horn, der US-Chef von Volkswagen, im Kongress zu Washington die Schadenssumme nannte, mit der sein Konzern im Zuge des Abgasskandals rechnete, lag die Reaktion der Abgeordneten irgendwo zwischen ungläubigem Staunen und unverhohlener Häme. 6,7 Milliarden Euro hatte die Wolfsburger Firmenzentrale an Rücklagen gebildet, um bezahlen zu können, was man an Strafen erwartete. Einer der Abgeordneten, die Horn in die Mangel nahmen, ein Texaner, sprach halb empört, halb amüsiert von reinem Wunschdenken, fernab der Realität. Hätte die Firma den zehnfachen Betrag veranschlagt, dann würde er ihr bescheinigen, dass sie auf dem Boden der Tatsachen stehe. So aber sei es ein Witz.

Das war im Oktober, und nun lässt die Klage des amerikanischen Justizministeriums erahnen, was in den Vereinigten Staaten auf VW noch zukommen kann. Im Namen der Umweltbehörde EPA wirft das Ressort dem Autobauer vor, in knapp 580.000 Dieselfahrzeugen Software zur Manipulation von Abgaswerten verwendet zu haben. Nach dem Clean Air Act, einem Gesetz zur Reinhaltung der Luft, müssen die Wolfsburger damit rechnen, für jedes zwischen Seattle und Miami verkaufte Automobil mit Zwei-Liter-Motor mit bis zu 32.500 Dollar und für jedes Modell mit Drei-Liter-Motor mit bis zu 37.000 Dollar zur Kasse gebeten zu werden. Daraus können sich unterm Strich etwa 18 Milliarden Dollar ergeben. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet sogar von 48 Milliarden Dollar.

Und doch scheint es nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Eine Größe, die sich noch halbwegs berechnen lässt, während völlig offen ist, worauf sich der VW-Konzern im Zuge der ebenfalls anstehenden Privatklagen einstellen muss. Schätzungen um die 90 Milliarden Dollar machen die Runde, wobei seriöse Prognosen so gut wie unmöglich sind. Anders als in Deutschland gibt es in den USA kein kodifiziertes Recht, sondern ein Rechtssystem, das auf Fällen basiert, die in der Vergangenheit entschieden wurden. Zudem können Strafschadensersatzansprüche geltend gemacht werden, sogenannte "punitive damages", die moralisches Fehlverhalten ahnden und die im Arsenal des amerikanischen Zivilrechts als wirkungsvollste Waffe gelten. Der Beklagte soll damit für unangemessenes Verhalten bestraft werden, häufig auf derart abschreckende Weise, dass das Urteil nicht nur einem einzelnen Unternehmen, sondern einer kompletten Branche eine Lektion erteilt.

Da wäre die Causa Philip Morris, der 2002 gefällte Spruch eines kalifornischen Richters, der einer an Lungenkrebs erkrankten Raucherin 28 Milliarden Dollar an Schadenersatz zugestand. Der Tabakkonzern, urteilte er, habe Betty Bullock mit vorsätzlich falscher Werbung zu einem Leben mit der Zigarette verführt. Obwohl die Buße später auf 28 Millionen reduziert wurde, war es eine Art Generalabrechnung mit der Tabakindustrie, die die gesundheitlichen Nebenwirkungen von nikotin lange Zeit unterschlagen beziehungsweise heruntergespielt hatte.

Ähnlich verhalte es sich im Fall Volkswagen, meint Carl Tobias, Juraprofessor der University of Richmond. Allein das Justizressort signalisiere schon mit seinem Vorstoß, dass es dem Staat um ein "aggressives" Signal gehe, ums Statuieren eines Exempels. Die Bundesjustiz mache eines resolut: "Ein solches Verhalten werden wir nicht tolerieren." Im Übrigen, so Tobias, wäre VW gut beraten, sich um einen schnellen Vergleich zu bemühen, statt sich auf das Risiko eines langwierigen Verfahrens einzulassen: "Entscheidend ist jetzt das Tempo. Je länger sich die Sache hinzieht, umso größer wird der Imageschaden." Im Dezember gingen die Verkaufszahlen von VW in den USA weiter in den Keller. Im Vergleich zum Vorjahr sank der Absatz um 9,1 Prozent. Im gesamten Jahr 2015 wurden 4,8 Prozent weniger Autos verkauft. Um mehr Zeit bittet das Unternehmen indes bei der EU-Kommission für eine Stellungnahme zu den geschönten CO2-Abgaswerten seiner Autos. Darüber habe Konzernchef Matthias Müller die Brüsseler Behörde in einem Brief informiert, erklärte VW.

Was es für den Ruf eines Unternehmens in den USA bedeutet, wenn der Eindruck von Arroganz entsteht, musste der britische Ölriese BP auf schmerzliche Weise erfahren, nachdem vor der Küste Louisianas die Bohrplattform "Deepwater Horizon" explodiert war. Es genügte eine unbedachte Bemerkung Tony Haywards, des damaligen Konzernchefs, der im Tonfall eines Oberlehrers bemerkte, er wolle schnellstmöglich zurückkehren in sein "altes Leben" in der englischen Heimat, statt an der schwülheißen Golfküste eine Krise zu managen. Was folgte, war eine Welle lautstarker Proteste.

Rund 500 Klagen von Privatpersonen sind es, mit denen VW bislang konfrontiert ist. Am Ende läuft es wohl auf eine Sammelklage hinaus. Bei einer solchen "class action" können sich Tausende Mandanten mit ähnlich gelagerten Fällen dem Verfahren anschließen, ohne selbst auch nur den geringsten Aufwand betreiben zu müssen.

Medienwirksam inszeniert, setzt sie ein beschuldigtes Unternehmen unter immensen öffentlichen Druck. Und über Sammelklagen entscheidet fast immer eine Jury aus Laien. Mit anderen Worten, aus Verbrauchern, die sich leichter mit betrogenen Autofahrern identifizieren können als mit einem Global Player à la Volkswagen. Schon deshalb legen es die Kläger darauf an, ein solches Verfahren auch über Emotionen zu führen. Geschworene sind leichter zu beeinflussen als Berufsjuristen, und in aller Regel urteilen sie emotionaler. Es hat zur Folge, dass eine amerikanische Gerichtsverhandlung nicht selten einem Bühnenschauspiel gleicht. Die Hauptdarsteller: rhetorisch brillante Anwälte, die oft und gern auf die Tränendrüse drücken.

(RP)
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