Heinrich Hiesinger will den Neuanfang Die Abrechnung des ThyssenKrupp-Chefs

Essen · Führungsversagen und kriminelle Machenschaften: ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger hat mit Härte auf den Fünf-Milliarden-Euro-Verlust des Stahl-Riesens reagiert. Und zwar mit einer Deutlichkeit, die man im verklausulierten Sprachgebrauch des deutschen Top-Managements sonst nicht gewohnt ist.

 Klare Worte in harten Zeiten: ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger.

Klare Worte in harten Zeiten: ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger.

Foto: dapd, dapd

Das Land NRW wird zu den ersten Opfern des Milliarden-Debakels von ThyssenKrupp gehören. 615 Millionen Euro spendete die mächtige Krupp-Stiftung seit 1968 für wohltätige Zwecke — zuletzt floss mehr als die Hälfte der Fördermillionen ins Ruhrgebiet. Zum Beispiel in das neue Folkwang-Museum, das die Stiftung vor zwei Jahren der Stadt Essen geschenkt hat.

Im nächsten Jahr dürfte der Fördersegen sehr schmal ausfallen: Der älteste deutsche Industriekonzern, der zu einem Viertel der Stiftung gehört, schüttet erstmals keinen Gewinn an die Aktionäre aus. Mit einem Minus von fünf Milliarden Euro präsentierte ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger nicht nur das schlechteste Jahresergebnis der Konzerngeschichte, sondern auch einen der höchsten Fehlbeträge, die ein deutsches Dax-Unternehmen überhaupt jemals erwirtschaftet hat. "Eine Dividendenausschüttung ist daher nicht möglich", erklärte Hiesinger bei der Vorlage der Bilanz für das Geschäftsjahr 2011/2012.

Der 52-jährige Ingenieur, der den Konzern seit Anfang 2011 führt, rechnete angesichts des Desasters mit dem Führungspersonal ab und versprach wörtlich einen "kompletten Neuanfang" für ThyssenKrupp. "Es ist offensichtlich, dass in der Vergangenheit sehr viel schiefgelaufen ist", sagte Hiesinger und fragte sich öffentlich, "warum eine derartige Entwicklung überhaupt möglich war". Um selbst erste Antworten zu liefern.

Und zwar mit einer Deutlichkeit, die man im verklausulierten Sprachgebrauch des deutschen Top-Managements sonst nicht gewohnt ist: "Es gab bisher ein Führungsverständnis, in dem Seilschaften und blinde Loyalität oft wichtiger waren als unternehmerischer Erfolg", gab Hiesinger zu Protokoll, "und es herrschte offenbar bei einigen die Ansicht vor, dass Regeln, Vorschriften und Gesetze nicht für alle gelten."

In den vergangenen 18 Monaten baute Hiesinger den Konzern um: Töchter mit einem Gesamtumsatz von über zehn Milliarden Euro und über 30.000 Mitarbeitern hat er in einem Tempo verkauft, dass von den 170.000 Mitarbeitern, der Börse und der Fachwelt mit Respekt quittiert wurde. Jetzt will er den Alltag bei ThyssenKrupp reformieren. "Wir müssen und wir werden unsere Führungskultur grundlegend verändern", kündigte Hiesinger an, und er drohte: "Wer dabei nicht mitzieht, hat im Konzern nichts mehr zu suchen."

Der Aufsichtsrat hatte am Vorabend bereits den halben Vorstand vor die Tür gesetzt und damit auf eine Serie von Korruptions- und Kartellaffären sowie auf die verheerende Lage im Übersee-Geschäft reagiert: Nach 2,1 Milliarden Euro im Vorjahr muss ThyssenKrupp auf die beiden neuen Stahlwerke in Brasilien und in den USA erneut 3,6 Milliarden Euro abschreiben.

Einschließlich Anlaufkosten und weiterer Betriebsverluste habe ThyssenKrupp in die beiden Projekte bis dato zwölf Milliarden Euro investiert, rechnete gestern Finanzchef Guido Kerkhoff vor. Inzwischen stehen die Werke zum Verkauf. Dass ThyssenKrupp dafür noch mehr als 3,4 Milliarden Euro bekommt, glaubt intern niemand mehr — daher auch die erneute Wertberichtigung. Rechnerisch hat ThyssenKrupp in Amerika also mindestens 8,6 Milliarden Euro verbrannt. Viel mehr ist inzwischen der gesamte Konzern nicht mehr wert.

Auch das europäische Stahlgeschäft macht Hiesinger Sorgen. Dort brach der operative Jahresgewinn um fast 80 Prozent auf 247 Millionen Euro ein. An einen Verkauf der Sparte oder des Duisburger Stahlstandortes, wo gerade 2000 der knapp 13 000 Mitarbeiter kurzarbeiten, denkt er aber nicht. "Das ist kein Thema", sagte er gestern. Einen Stellenabbau und auch Kündigungen wollte Kerkhoff allerdings nicht ausschließen.

Angesichts wachsender Kritik an Gerhard Cromme stellte Hiesinger sich gestern hinter den ThyssenKrupp-Chefkontrolleur. Der 69-jährige Manager, der wichtige Entscheidungen der vergangenen Jahre mitgetragen hatte, sei vom früheren Vorstand nicht richtig informiert worden, so Hiesinger.

(RP/csi)
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