Evernote-Gründer Phil Libin Amerikas unaufgeregter Digital-Pionier

Redwood City · Immigrant, Studienabbrecher, Nerd wider Willen: Phil Libin hat Evernote zu einer der heißesten Aktien im Silicon Valley gemacht.

 Beim wöchentlichen Meeting, immer donnerstags, sitzen die Evernote-Mitarbeiter auf der Treppe. Mit einem Gong ruft Firmen-Chef Phil Libin zu Versammlung. Auch sonst pflegt das Unternehmen die Zwanglosigkeit, mit der die Hightech-Industrie im Silicon Valley ihre Kreativität unter Beweis stellen möchte. Dabei ist Libin selbst ein eher nüchterner Typ.

Beim wöchentlichen Meeting, immer donnerstags, sitzen die Evernote-Mitarbeiter auf der Treppe. Mit einem Gong ruft Firmen-Chef Phil Libin zu Versammlung. Auch sonst pflegt das Unternehmen die Zwanglosigkeit, mit der die Hightech-Industrie im Silicon Valley ihre Kreativität unter Beweis stellen möchte. Dabei ist Libin selbst ein eher nüchterner Typ.

Foto: Evernote

Unsinn, man müsse kein Studienabbrecher sein, um im Silicon Valley Erfolg zu haben, sagt Phil Libin und erzählt von den eigenen Dummheiten. In seinem letzten Jahr am College hörte er vorzeitig auf, wie vor ihm Bill Gates und nach ihm Mark Zuckerberg. "Nur dass es bei Gates und Zuckerberg Harvard war, eine wirklich gute Schule, und bei mir nur die Boston University." Um es kurz zu machen, die beiden hätten es zu etwas gebracht, obwohl — und nicht weil — sie hinwarfen. Libin nennt es das "Erfolgsparadox". Jemand habe einen Knick in der Biografie, und schon schreibe man seinen Aufstieg diesem Knick zu. Absurd sei das.

Draußen hängen Elektroautos an Stromzapfsäulen, vor der Kantine steht eine Tischtennisplatte, wer will, kann auf Laufbändern schwitzen und nebenbei arbeiten. Schlägt Libin Donnerstagnachmittag den Gong, sitzt die Belegschaft beim wöchentlichen Meeting auf einer überbreiten Treppe. An der Espressomaschine ist jeder mal dran, den anderen Tassen über den Tresen zu schieben. In einem Satz, all die kleinen Statussymbole, durch die ein Silicon-Valley-Unternehmen kundtut, dass eine Ansammlung kreativer Köpfe kein Fließbandbetrieb sein kann, sind auch bei Evernote zu finden.

 Phil Libin machte Evernote zum Erfolg.

Phil Libin machte Evernote zum Erfolg.

Foto: Frank Herrmann

"In Amerika gilt das Scheitern schon als halber Erfolg"

Die Leute stammen aus aller Welt. Julien Boedec etwa, ein 31 Jahre alter Franzose, hat sein Glück zunächst auf eigene Faust versucht, in Paris, wo er Menschen mit ähnlichem Musikgeschmack in sozialen Netzwerken verknüpfen wollte. Was letztlich daran scheiterte, dass es an risikofreudigen Geldgebern mangelte.

Im kalifornischen Hightechtal, glaubt Boedec, hätte er mehr Glück gehabt, die Mentalität sei eine völlig andere. "Wenn du in Frankreich gescheitert bist, dann war‘s das. In Amerika gilt das Scheitern schon als halber Erfolg, zeigt es doch, dass du es versuchst, dich an etwas herangewagt hast."

Wenn Libin redet, ist vom messianischen Eifer, wie man ihn Silicon-Valley-Kapitänen oft zuschreibt, so gar nichts zu spüren. Er sagt grundvernünftige Sätze wie diesen: "Gelingt es uns, unsere Emotionen zu steuern, können wir viel produktiver sein."

So unaufgeregt, wie er daherkommt, angetan mit einem T-Shirt samt Schraubenschlüsselmotiv, wirkt er wie das zurückhaltende, disziplinierte Gegenmodell zu den Großsprechern seiner Branche. Es passt zu einer Firma, die den Anspruch hat, die Arbeitswelt schön übersichtlich zu ordnen, damit der ganze Zettelkram überflüssig wird.

Evernote will Dinge erleichtern

Evernote lässt seine User Notizen, Bilder, Webseiten speichern und auf verschiedenen Geräten synchronisieren. Man kann handgeschriebene Notizen einscannen, selbst Krakelhandschriften erkennt das Programm so gut, dass auch der Inhalt einer auf Papier verfassten Notiz schnell durchsuchbar ist. Man wolle die vier Dinge erleichtern, die jeder fast täglich im Büro mache, sagt Libin: Finden, Sammeln, Schreiben und Präsentieren.

Sitzt eine Runde zur Besprechung zusammen, durchforstet die Software die Notizen aller Beteiligten, so dass jeder weiß, was den anderen gerade beschäftigt. Schreibt der Chef eine Analyse, weist sie ihn automatisch auf Unternehmensberichte oder Zeitungsartikel hin, die dem Thema bereits gewidmet waren. Wo das enden soll? Dass alle nur noch abkupfern? "Bei so einem Report versuche ich ja nicht kreativ zu sein, sondern einfach korrekt. Da nehme ich alle Bausteine, die es schon gibt", antwortet Libin, dann philosophiert er über die Welt der Arbeit, die alte und die neue.

In der alten habe man sich stundenlang auf eine einzige Sache konzentriert — und im Übrigen 20 Jahre denselben Job gemacht. In der neuen arbeite man an etwas, suche bei Google, berate im Team, lüfte das Hirn an der Tischtennisplatte oder der Kletterwand aus. Libin vergleicht es mit Imbisshappen. So eine "Welt der Snacks" brauche Informationen in kurzer, prägnanter Form, dann, wenn sie relevant sind, egal, ob auf Computerbildschirm, Smartphone oder Smartwatch.

Libin ist kein Träumer

Und "the next big thing”, das nächste große Ding? Libin ist kein Träumer, seine Visionen kreisen um die Vernunft. Um Sensoren in der Kleidung, die Warnsignale aussenden: Vorsicht, du bist zu gestresst. Um digitale Brillen, durch die man sehen kann, "ob die Emotionen von dir Besitz ergreifen, ob du wirklich verstanden hast, was ich dir gerade zu erklären versuche". Brille, Uhr, alle möglichen Gadgets, im Büro, im Auto, daheim, es werde sich anfühlen, als sei man permanent von einem Schleier aus digitaler Intelligenz umgeben. Das alles, um Fehlentscheidungen in Grenzen zu halten.

Hätten sich Libins Eltern an einer wichtigen Wegkreuzung anders entschieden, lebte der 43-Jährige heute in Mexiko. Geboren wurde er in Leningrad, das längst wieder St. Petersburg heißt, mit acht Jahren ging es in die USA. "Meine Eltern waren geschätzte Mitglieder der kulturellen Elite, dann waren sie arbeitslos", skizziert er in lakonischer Kürze, was der Wechsel nach New York bedeutete.

In seinem ersten New Yorker Sommer, 1980, lernte er Englisch, indem er Comic-Hefte studierte und ausdauernd vorm Fernseher saß. Nach den Schulferien konnte er die fremde Sprache, konnte er mithalten im Unterricht.

Die Mutter, Pianistin der Leningrader Philharmonie, verkaufte zunächst Blumen, schließlich fand sie Anstellung in einer Handschuhfabrik, während der Vater, ein Geigenspieler, Klaviere reparierte. Eine Zeit lang kam die Familie nur mit Hilfe von Lebensmittelmarken über die Runden.

"Mir blieb nichts anderes übrig, als Nerd zu werden"

In der Bronx, wo sie wohnte, war das Milieu derart rau, dass es der schmächtige Phil nach der Schule vorzog, zu Hause zu hocken, statt auf die Straße zu gehen und Prügel zu riskieren. "Im Grunde blieb mir gar nichts anderes übrig, als ein Nerd zu werden." Nach dem abgebrochenen Studium der Computerwissenschaften gründete er nacheinander zwei Firmen, die eine auf E-Commerce spezialisiert, die andere auf Datensicherheit.

Als er es satt hatte, ständig von Boston an die Westküste zu fliegen, um sich mit Investoren zu treffen, zog er ins Silicon Valley. Und Mexiko? Seine Familie war gerade sechs Monate in Amerika, da suchte die Philharmonie in Mexiko-Stadt einen Violinisten und machte seinem Vater ein Angebot. "Meine Eltern haben lange darüber nachgedacht."

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