Interview mit Verdi-Chef Frank Bsirske "Streikrecht für Beamte ist gut"

Düsseldorf (RP). Im Interview mit unserer Redaktion spricht Gewerkschafts-Chef Frank Bsirske über den "Stinkefinger" als Protestmittel, die schwierigen Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst, die Folgen der Osterweiterung für den Arbeitsmarkt und das Streikrecht für Beamte.

Frank Bsirske: Stationen eines Berufsfunktionärs
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Herr Bsirske, großes Aufsehen haben Sie mit Ihren bei einer Protestaktion erhobenen Mittelfingern erzeugt. Seien Sie ehrlich: Das war der kalkulierter Tabubruch.

Bsirske Ich bin überrascht, dass das überhaupt als Tabu empfunden worden ist. Aus meiner Sicht wurde es erst problematisch, als die Geste in einen falschen Zusammenhang gerückt wurde. Sie bezog sich ja nicht auf die Kanzlerin, sondern auf die ungeheuerlichen Vorgänge bei der Hypo Real Estate.

Der Mittelfinger ist aus Ihrer Sicht also ein probates Protestmittel?

Bsirske Man drückt damit aus, dass es einem stinkt. Der Vorgang bei der HRE ist so skandalös, dass er eine drastische Bildsprache verdient. Der Staat muss die Bank insgesamt 142 Milliarden Euro stützen, und einige Manager gehen nach 19 Monaten mit einem Pensionsanspruch von bis zu 20 000 Euro im Monat ab dem 60. Lebensjahr bis ans Lebensende. Das ist moralisch verwerflich. Dafür kann man nur den Stinkefinger zeigen.

Sie fordern für die Beschäftigten der Länder mit fünf Prozent fast so viel wie die Industriegewerkschaften — und die mussten in der Krise Lohnkürzungen hinnehmen. Überspannen Sie den Bogen da nicht?

Bsirske Wenn man das nur punktuell betrachtet, ist die Frage möglicherweise zulässig. Wir haben es aber mit einer langjährigen Fehlentwicklung der Löhne im öffentlichen Dienst zu tun. In den letzten zehn Jahren ist die Schere zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst auseinandergegangen. Das konnten wir selbst mit ordentlichen Abschlüssen wie 2008 nicht ausgleichen. Insofern agieren wir mit unserer Forderung folgerichtig.

Wie sollen die Länder Ihre Forderung angesichts ihrer desolaten Finanzlage bezahlen?

Bsirske Die Situation hat sich doch entspannt. Die Einnahmen der Länder 2010 und 2011 werden deutlich über dem Niveau von 2009 liegen. Zu einer Konsolidierung der Haushalte kommt es am ehesten, wenn Wachstum erzeugt wird.

Und das geschieht wie?

Bsirske Durch höhere Löhne: Der Exportboom, den wir zurzeit erleben, steht auf wackeligen Beinen. Die USA schwächeln, die europäischen Staaten schwenken alle auf einen harten Sparkurs ein, und auch in Asien wird aus Sorge vor einer Überhitzung der Wirtschaft auf die Bremse getreten. Kurzum:. Der private Konsum muss zum Motor des Aufschwungs werden.

Sie argumentieren mit der steigenden Kaufkraft. Gegner erwidern, dass steigende Gehälter die Arbeitgeber zwingen, Mitarbeiter zu entlassen. Aus Angst vor Jobverlust werde das Geld dann eher zur Seite gelegt.

Bsirske Wir dürfen nicht die Fehler des letzten Jahrzehnts wiederholen. Damals wurde in die Krise hineingespart — mit negativenen Folgen für Wachstum und öffentliche Haushalte. Wir brauchen jetzt eine Stabilisierung der Binnenkonjunktur. Es ist nicht einzusehen, dass der Staat Wohlhabenden Steuergeschenke macht, um sich dann später das Geld bei ihnen zu teuren Zinsen zu leihen. Und dann kommt noch ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz hinzu, das reiche Erben und Hoteliers beglückt, die Länder aber zwei Milliarden Euro kostet. Dass die Landesbeschäftigten dafür Lohnverzicht üben sollen, ist überhaupt nicht einzusehen.

Die Beschäftigten sollen also nicht zur Haushaltssanierung beitragen.

Bsirske Allein im Länderbereich wurden immer wieder Stellen abgebaut. Das hat natürlich zu einer enormen Arbeitsverdichtung für die verbliebenen Mitarbeiter geführt — etwa beim Pflegepersonal der Unikliniken. Da stoßen wir an eine Grenze. Wir sollten den öffentlichen Dienst nicht unattraktiv machen. Schon jetzt gibt es Bereiche, wo es schwierig ist, genügend Nachwuchskräfte zu finden. Die Funktionsdienste der Krankenhäuser sind da nur ein Beispiel.

Wie stehen die Chancen für eine schnelle Einigung?

Bsirske Wir streben eine schnelle Einigung an. Ich kenne den Verhandlungsführer der Länder als jemanden, der auch nicht an endlosen Schleifen interessiert ist.

Ab wann könnte es Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst geben, und in welchem Bereich wären sie am wahrscheinlichsten?

Bsirske Ich will jetzt bewusst nicht vor Verhandlungsbeginn einen Arbeitskampf ankündigen. Nach den ersten Verhandlungsrunden werden wir da klarer sehen.

Ist es noch zeitgemäß, dass getrennt für die Länder auf der einen Seite und für Bund und Kommunen auf der anderen Seite verhandelt wird?

Bsirske Die Länder halten da klar an einem getrennten Tarifvertrag fest. Wir versuchen zwar, zumindest die Verhandlungen zu synchronisieren, damit zusammenwächst, was zusammengehört. Aber die Länder sperren sich. Die wollen auch in Zukunft alleine verhandeln.

Ab dem kommenden Jahr gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Osteuropäische Leiharbeiter könnten dann zu den niedrigen Löhnen ihres Landes in Deutschland arbeiten. Wie muss die Politik jetzt reagieren?

Bsirske Andere europäische Länder wie Großbritannien oder Irland haben bei diesem Thema schon Erfahrungen gesammelt, von denen wir lernen können. Wir haben mit den Kollegen dort geredet. Die Botschaft war immer: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat sozialverträglich funktioniert, weil es einen gesetzlichen Mindestlohn gab und dessen Einhaltung streng kontrolliert wurde. So wurde verhindert, dass die Zuwanderung ausländischer Billigkräfte zu einem Lohndumping bei den heimischen Arbeitnehmern führte.

Wie ist die Situation bei den deutschen Leiharbeitern?

Bsirske Die Leiharbeit hat sich bei uns in den letzten Jahren wie ein Virus durch alle Branchen gefressen. In einer Fülle von Unternehmen wird Leiharbeit systematisch als Instrument der Lohndrückerei eingesetzt. Unternehmerische Risiken werden einseitig auf die Arbeitnehmer abgewälzt. Das muss ein Ende haben.

Lehnen Sie Leiharbeit prinzipiell ab?

Bsirske Nein, Leiharbeit als Instrument für die Flexibilisierung, etwa zum Abfangen von Auftragsspitzen, ist in Ordnung — vorausgesetzt, die Arbeits- und Lohnbedingungen stimmen. Massive Einwände habe ich aber gegen Leiharbeit als Instrument systematischer Lohndrückerei. Wir haben derzeit Lohnabstände zur Stammbelegschaft von durchschnittlich 35 bis 45 Prozent.

Sie haben jüngst sogar einen höheren Lohn für Leiharbeiter im Vergleich zur Stammbelegschaft gefordert. Das könnte falsche Anreize schaffen.

Bsirske Nein, es wäre ein Ausgleich für die Unsicherheit. In Frankreich gibt es schon seit vielen Jahren einen gesetzlich verankerten Prekaritätsaufschlag von zehn Prozent für Leiharbeiter. Das führt nicht dazu, dass dort keiner Leiharbeiter einsetzt — im Gegenteil.

Gesetzlich ist die Gleichbehandlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitern ja schon festgeschrieben — nur mit Hilfe von Tarifverträgen kommt es zu den niedrigeren Zahlungen für Leiharbeiter.

Bsirske Es stimmt, dass das jetzige Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Gleichbehandlung vorsieht, es sei denn, es gibt abweichende Tarifverträge. Das haben vor allem diese Pseudo-Gewerkschaften mit einem C im Namen ausgenutzt und sich für Dumpingtarifverträge hergegeben. Das hat natürlich auch uns als DGB-Gewerkschaften unter Druck gesetzt. Das derzeitige unbefriedigende Lohnniveau in der Leiharbeit kommt also nicht von ungefähr. Doch selbst wenn man dieses Niveau nun für allgemeinverbindlich erklären würde, wäre das schon ein Fortschritt. Nur so verhindern wir, dass die Löhne noch weiter in den Keller rutschen, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat bereits signalisiert, dass er bei diesem Thema auf Ihrer Seite steht.

Bsirske Es ist gut, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber hier am gleichen Strang ziehen. Allerdings steht dem eine schwarz-gelbe Regierung gegenüber, in der offenbar der kleinere Koalitionspartnerdiktieren kann, was geht und was nicht. Da wird der Zusammenhalt der Koalition über den Zusammenhalt der Gesellschaft gestellt.

Was müsste die Regierung Ihrer Ansicht nach also tun?

Bsirske Jetzt müssen zuerst die bestehenden Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, und dann muss eine gleiche Behandlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitern und zwar vom ersten Tag an gesetzlich geregelt werden.

Wie realistisch ist es, dass die schwarz-gelbe Bundeseregierung eine Gleichbehandlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitern gesetzlich verankert?

Bsirske Dass diese Regierung mit einer auf Realitätsverweigerung setzenden FDP von sich aus zu einer solchen Equal-Pay-Regelung kommt, ist schwer vorstellbar. Deswegen werden wir die Regierung nicht sich selbst überlassen — bei allem Unterhaltungswert, den das ja hat. Was genau ist da geplant?

Rollt demnächst die große Leiharbeits-Streikwelle auf uns zu?

Bsirske Ich kündige keine große Streikwelle an. Wir konzentrieren uns zunächst auf die Betriebe. Es wird Versammlungen und betriebliche Aktionen geben. Dabei beschränken wir uns nicht nur auf die Leiharbeit: Wir thematisieren auch den ungebremsten Anstieg von sachgrundlosen Befristungen, die Zunahme von Werksverträgen und die Unsicherheit in puncto Übernahme nach der Ausbildung.

Wie viele Leiharbeiter sind Verdi-Mitglied?

Bsirske Das kann ich nicht sagen. Wir erheben nicht, wer in einem Leiharbeitsverhältnis und wer in einem Stammbelegschaftsverhältnis ist.

Wird Verdi sich zunehmend um die Leiharbeiter kümmern?

Bsirske Das wäre doch keine schlechte Strategie. Wer kümmert sich sonst um ihre Interessen? Zum Beispiel werden wir tariflich — wie es die IG Metall in der Stahlindustrie vorgemacht hat — bei kommenden Verhandlungen mit den Arbeitgebern auf die Gleichbehandlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitern pochen.

Wie viele Leiharbeiter beschäftigt Verdi?

Bsirske Keinen einzigen.

Und wie viele sachgrundlose Befristungen gibt es bei Ihnen?

Bsirske Auch keine.

Das Bundesarbeitsgericht hat das Prinzip der Tarifeinheit gekippt. Springen Verdi bald die Erzieherinnen ab und gründen eine eigene, schlagkräftige Gewerkschaft?

Bsirske Wir haben bei den Erzieherinnen gute Organisationsgrade — teils von 98 Prozent. Das ist nicht eben ein Indiz dafür, dass da jemand abspringt. Dafür machen wir zu erfolgreich unsere Arbeit. Denken Sie etwa an die Streiks 2009 unser Engagement für eine soziale und tarifliche Aufwertung von sozialer Arbeit.

In anderen Schlüsselbranchen — bei Fluglotsen, Lokführern oder Ärzten — hat es solche Abkapselungen gegeben. Erleben wir den Abschied von der Solidarität der Beschäftigten?

Bsirske Einige Berufsgruppen haben versucht, mit dem Abschied aus der Gesamtsolidarität Vorteile für sich zu realisieren. Einigen ist das auch gelungen. Das Thema bleibt eine Herausforderung für uns. Die Arbeitsministerin plant einen Gesetzentwurf zur Rettung der Tarifeinheit. Wissen Sie, wie weit die Ministerin mit ihrem Gesetz ist? Bsirske Ich gehe davon aus, dass wir in den ersten zwei Monaten 2011 eine gesetzgeberische Initiative der Regierung sehen werden.

Wie beurteilen Sie die jüngste richterliche Entscheidung, dass Beamte straffrei streiken dürfen?

Bsirske Durch die Rechtsprechung des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts schaffen wir bei uns, was in Europa längst Normalität ist: ein unterschiedsloses Streikrecht. Das kann ich nur begrüßen.

Andersherum haben Beamte Privilegien, etwa die Unkündbarkeit. Daraus könnte man besondere Pflichten wie das Streikverbot ableiten.

Bsirske Ich trete dafür ein, dass - abhängig von Beschäftigungsjahren und Lebensalter - auch für Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst Unkündbarkeitsregelungen gelten. Dass Lehrkräften die normalen Rechte von Arbeitnehmern zugestanden werden, war überfällig. Ob man bei Lehrern allerdings überhaupt dauerhaft am Beamtenstatus festhalten muss, lasse ich mal dahingestellt.

Maximilian Plück führte das Interview.

(RP)
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