„Vollbeschäftigung in Deutschland ist möglich“

Das Samstags-Interview mit Frank-Jürgen Weise (62), Chef der Bundesagentur für Arbeit.

Wann bekommen wir in Deutschland Vollbeschäftigung?

Weise Die hätten wir bei einer Arbeitslosenquote von unter vier Prozent. Die Entwicklung deutet darauf hin, dass wir tatsächlich in einigen Jahren in diesen Bereich kommen können. Vollbeschäftigung in Deutschland ist möglich. Wir müssen aber beachten, dass regional große Unterschiede bleiben: Der Osten steht tendenziell schlechter da als der Westen und der Norden schlechter als der Süden.

Trotz des Booms am Arbeitsmarkt bleibt der Sockel der Hartz-IV-Bezieher hoch. Was muss sich ändern?

Weise Es ist schwieriger, Langzeitarbeitslose zurück in den Job zu bringen, als jemanden, der nur vorübergehend in die Arbeitslosigkeit rutscht. Deshalb muss man längere Zeiträume betrachten. Von 2007 bis 2013 ist die Langzeitarbeitslosigkeit um 40 Prozent zurückgegangen - das ist ein Erfolg. Aber das Problem bleibt natürlich: Wir haben es mit Menschen zu tun, die oft keinen Schul- und keinen Berufsabschluss haben, manchmal die deutsche Sprache nicht beherrschen. Das ist eine langfristige Aufgabe.

Wie viele der Hartz-IV-Bezieher sind dauerhaft nicht vermittelbar?

Weise Letztlich sind alle vermittelbar. Die Frage ist: in welchem Zeitraum. Wenn ich den heutigen Bestand von rund drei Millionen Arbeitslosen nehme, dann erfüllen davon zwei Drittel - also gut zwei Millionen - mindestens ein Merkmal: Sie haben keinen Schulabschluss oder keinen Berufsabschluss oder sind älter als 50 Jahre. Das sind Härtefälle. Aber wir geben keinen auf. Die Frage wird sein, ob man sie alle in den ersten Arbeitsmarkt bekommt.

Und wenn nicht?

Weise Wir zahlen an den Arbeitgeber, der einen Langzeitarbeitslosen einstellt, bereits einen Lohnkostenzuschuss von 20 bis 40 Prozent. Der gleicht dann aus, dass dieser Mensch heute noch nicht die Produktivität hat, die seinen Lohn rechtfertigt.

Bei dem Wort Subvention gehen bei vielen aber die Alarmglocken an.

Weise Besser eine subventionierte Arbeit als Arbeitslosigkeit. Außerdem bleibt es ja nicht dabei: Wir bieten in Absprache mit den Arbeitgebern auch Weiterqualifizierungen an. Und die Bundesagentur hat erkannt, dass die Langzeitarbeitslosen nach der Vermittlung noch eine Weile einen Ansprechpartner benötigen. Das führen wir derzeit systematisch ein.

Am 1. Mai jährt sich die EU-Osterweiterung zum zehnten Mal. Wie hat sich der deutsche Arbeitsmarkt durch die Öffnung verändert?

Weise Es gab ja die Sorge, dass viele Menschen aus den Beitrittsstaaten auf unseren Arbeitsmarkt drängen und die Firmen dieses Überangebot zur noch strengeren Auslese und zur Durchsetzung niedrigerer Löhne nutzen würden. Das ist nicht passiert. Durch die gute wirtschaftliche Entwicklung können wir all jene, die gekommen sind, gut gebrauchen. Im Januar dieses Jahres waren knapp 360 000 Menschen aus den EU-8 Ländern bei uns sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Handelt es sich bei diesen Menschen um Fach- oder Hilfskräfte?

Weise Die Hälfte ist in qualifizierten Jobs tätig, 45 Prozent im Helferbereich.

Aus welchen der damaligen Beitrittsländer kommen die meisten Arbeitskräfte nach Deutschland?

Weise Polen und Ungarn. Der weit größere Teil kommt aber inzwischen aus den EU-Krisenstaaten. Aus Spanien, Griechenland, Portugal, Italien sind inzwischen 500 000 Menschen bei uns sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Seit Jahresanfang gilt auch für Bulgaren und Rumänen die volle Freizügigkeit in der EU. Wie viele sind gekommen?

Weise Im Januar 2014 waren bei uns rund 130 000 Bulgaren und Rumänen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind 35 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Daraus kann man ermitteln: Seit Januar 2013 dürften insgesamt 100 000 zusätzlich gekommen sein.

Mit wie vielen Bulgaren und Rumänen rechnen Sie für das laufende und das kommende Jahr insgesamt?

Weise Das lässt sich sehr schwer auf diese Nationen eingrenzen. Insgesamt werden aus den EU-8-Staaten schätzungsweise dieses Jahr 180 000 Menschen kommen. Im kommenden Jahr rechnen wir mit leicht nachlassender Größenordnung.

Gab es Zuwanderung in die Sozialsysteme?

Weise Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme ist wegen der restriktiven Regelungen kaum möglich. Aktuell beziehen 45 000 Rumänen und Bulgaren Grundsicherung. Aber wir können anhand unserer Statistik nicht sagen, wie viele davon erst in den letzten Monaten gekommen sind.

Rumänen und Bulgaren strömen in Städte wie Duisburg und Dortmund. Tut die Politik genug, damit dies keine Schwerpunkte von Schwarzarbeit und Kriminalität werden?

Weise Das müssen Politiker vor Ort beantworten. Aber auf den Zuzug an sich hat die Politik nur wenig Einfluss. Als wir auf qualifizierte Zuwanderer aus Polen gehofft hatten, kamen nicht genug. Die sind damals überwiegend nach England gegangen - schlicht, weil dort bereits Landsleute waren. Vergleichbares erleben wir nun mit den Rumänen und Bulgaren. Deshalb kommt es zu der Ballung in einigen Städten. Die dabei entstehenden Probleme sind gravierend. Das liegt vor allem daran, dass der Anteil der nicht Qualifizierten in diesen Ländern deutlich höher ist im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern.

Was können die Jobcenter leisten?

Weise Man darf die Erwartungen nicht zu hoch setzen. Wir haben es da mit Familien zu tun, die aus einer streng hierarchischen Kultur kommen, die oft unsere Sprache nicht sprechen und unsere Arbeitswelt nicht gewöhnt sind. Deshalb ist das kein Kurzfristprogramm. Die Jobcenter haben das erkannt. Duisburg hat etwa speziell dafür 35 Mitarbeiter eingestellt. In erster Linie sind aber die Kommunen gefragt. Und wenn diese glauben, dass sie es allein nicht leisten können - wovon ich übrigens ausgehe - dann muss das Land einspringen.

Ein zentrale Regierungsprojekt ist der Mindestlohns Wie wird sich der auf Geringqualifizierte auswirken?

Weise Wir müssen mithelfen, die Menschen dazu befähigen, dass sie diesen Mindestlohn auch wirklich verdienen. Dann finde ich die Entwicklung auch gut. Denn wer hat etwas dagegen, dass Menschen so viel verdienen, dass sie ihr eigenes Leben damit finanzieren können? Uns muss aber klar sein, dass das kein Selbstläufer ist. Wenn jemand lange nicht gearbeitet hat und nicht so viel kann, dann benötigen wir einen Übergang, bis er seine 8,50 Euro wert ist und im besten Fall sogar mehr.

Sie sehen also die Gefahr, dass bei unzureichender Nachschulung Geringqualifizierte arbeitslos werden.

Weise Wer würde auf Dauer mehr zahlen, als er dafür bekommt? Deshalb ist die Sorge vor einem Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den Geringqualifizierten berechtigt und muss ernst genommen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen entsprechend geschult werden.

ANTJE HÖNING UND MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

(RP)
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