Essen Wie Zersplitterung dem Ruhrgebiet schadet

Essen · Für Bundestagspräsident Lammert ist die Behauptung, das Ruhrgebiet benötige mehr Subventionen, eine "Lebenslüge".

Falschen Respekt kennt Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nicht. Unlängst ermahnte er noch Kanzlerin Merkel öffentlich, ihre Gespräche mit einem Kabinettskollegen müssten sich "auch anderswo erledigen lassen". Jetzt hat sich der Bochumer seine Heimat zur Brust genommen: Es sei eine "Lebenslüge" des Ruhrgebietes, dass es zurückliege, weil es weniger Förderung als in anderen Gebieten gegeben habe, sagte er der "WAZ". In Wahrheit kranke die Region daran, dass sie nicht einheitlich verwaltet und repräsentiert werde. Wir analysieren die Lage.

Wie viel Subventionen sind geflossen? Abgesehen von den neuen Ländern, hat keine Region Deutschlands in den vergangenen 40 Jahren höhere Zuschüsse erhalten als das Ruhrgebiet. Aber weder Land noch der Regionalverband Ruhr (RVR) waren gestern in der Lage, Zahlen zu nennen - auch weil viele Zahlungen wie Hochschulausbau oder Kita-Förderung nicht als reine Ruhrgebietsprogramme gelten können. Sicher ist, dass keine andere Branche Deutschlands höhere Subventionen bekam als die Steinkohle mit mehr als 150 Milliarden Euro. Wäre dieses Geld in die Förderung junger Unternehmen statt wie lange gerade von der SPD gewollt in eine sterbende Industrie geflossen, wären die Region und ganz NRW deutlich weiter.

Ab 2020 soll es ein direkt gewähltes Parlament für das Ruhrgebiet geben, während zugleich der RVR aufgewertet wird. Gut so? Das sind wie von Lammert angemerkt nur inkonsequente Schritte. Es bleibt fragwürdig, dass das Gebiet nicht von einem eigenen Regierungspräsidenten kontrolliert wird und stattdessen teilweise vom Regierungspräsidenten Münster, vom Regierungspräsidenten Düsseldorf und teilweise aus Arnsberg gesteuert wird. Es fehlt erst recht ein prominenter Spitzenrepräsentant als quasi Bürgermeister für die ganze Region - das Ruhrgebiet verkauft sich also unter Wert.

Kooperieren die Kommunen? Sie arbeiten weiterhin oft eher gegeneinander als miteinander. So wirbt der RVR zwar für die Region als Standort, aber Essen und Dortmund nur für sich. Bochum sucht Investoren für das frühere Opel-Gelände, der Kreis Recklinghausen will den Gewerbepark "Newpark" aufbauen. Katastrophal ist, wie schlecht der Verkehr koordiniert wird: Die Verlängerung einer Straßenbahnlinie von Essen zum Centro in Oberhausen scheiterte an einer Volksabstimmung in Oberhausen, die Gladbecker stoppten den Ausbau der A52 über ihr Gebiet. Geschädigt ist Essen. "Mehr Kooperation wäre zwingend und würde viel Geld sparen", meint Ralf Witzel, FDP-Finanzexperte aus Essen.

Ist das Ruhrgebiet ein Faß ohne Boden? Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Zwar liegt die Arbeitslosigkeit deutlich höher als im Schnitt Deutschlands. Es gibt weniger Selbstständige als in anderen Gebieten. Trotzdem ist die Wirtschaftskraft je Einwohner vom Jahr 2000 bis Ende 2012 in Relation zum Bundesdurchschnitt von 85 auf 91 Prozent gestiegen, während Gesamt-NRW leicht verlor und 2012 laut Hessischer Landesbank 101 Prozent des Bundesdurchschnitts an Wirtschaftskraft hatte. Es gibt also einen minimalen Aufholprozess, während NRW seinen früheren bundesweiten Vorsprung verlor.

Benachteiligt der Bund das Ruhrgebiet oder ganz NRW? Gemessen an den Zuschüssen für den Osten ist das so. Landesfinanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) macht einen weiteren Vergleich auf: Die drei Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin erhalten einen speziellen Zuschlag als städtisches Gebiet, weil sie ja viele Sozialhilfeempfänger, soziale Konflikte und ähnliches haben. NRW mit seinen zwölf Großstädten mit mehr als 250 000 Einwohnern hatte bis 2004 einen ähnlichen Zuschlag im Gegensatz zu den anderen Flächenstaaten. Würde er wieder eingeführt, hätte das Land 600 Millionen Euro mehr im Jahr.

(RP)
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