Weltalphabetisierungstag 7,5 Millionen Deutsche haben nie richtig lesen gelernt

Berlin · Am Samstag ist Weltalphabetisierungstag. In Deutschland können 7,5 Millionen Menschen nur eingeschränkt lesen und schreiben. Allein in NRW sind 1,6 Millionen Menschen betroffen. Ihre Zahl hat zuletzt zugenommen, warnen Experten.

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Foto: dpa, Angelika Warmuth

Es ist eines der am wenigsten bekannten sozialen Probleme des Landes: 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland haben massive Probleme beim Lesen und Schreiben. Die Furcht, dass diese Schwäche Nachbarn, Freunden, dem Arbeitgeber oder nur Passanten auffallen könnte, ist so groß, dass Betroffene fast alles dafür tun, ihr Defizit zu verheimlichen.

Da ist zum Beispiel der Fall einer Hilfsköchin aus Nordrhein-Westfalen, die von ihrem Chef beiläufig gebeten wird, ein Rezept aufzuschreiben. In Panik hält sie einen Finger in das siedende Öl einer Fritteuse, bis sie es nicht mehr aushält. Sie nimmt den Schmerz in Kauf, um die beschämende Offenbarung zu vermeiden, nicht schreiben zu können. Sie hat Angst vor dem Stift, Angst, ihr könnte wegen ihrer Schreibschwäche gekündigt werden.

Rund 7,5 Millionen Erwachsene gelten in Deutschland als funktionale Analphabeten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Hamburg, die 2011 erstmals das Ausmaß von Analphabetismus in Deutschland untersucht hatte. Allein in Nordrhein-Westfalen sind demnach 1,6 Millionen Menschen betroffen. Nur ein Bruchteil funktionaler Analphabeten kann überhaupt nicht lesen oder schreiben, fast alle haben immerhin begrenzte oder unsichere Fähigkeiten im Umgang mit Schriftsprache. Doch das reicht oft nicht.

Die Anforderungen in der Schule, im Beruf oder allein beim Einkaufen im Supermarkt überfordern die Betroffenen, sie fühlen sich unterlegen und verstecken sich. Und weil diese Anforderungen selbst in einfachen Berufen immer weiter zunehmen, wachse auch die Zahl derer, die deswegen ausscheiden, sagt Tim Tjettmers. Er arbeitet beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung und gibt Kurse für funktionale Analphabeten.

Angstspirale beginnt im Kindesalter

"Die Spirale aus Angst beginnt meist schon im Kindesalter", sagt Tjettmers. "In der Schule wird etwa drei Jahre lang das Lesen und Schreiben geübt. Wer es dann noch nicht kann, versucht seine Defizite später durch mündliche Mitarbeit für ein passables Zeugnis auszugleichen." So könne die Schullaufbahn zunächst gutgehen, selbst ein Abschluss sei möglich. Viele Betroffene würden an der Verdrängung erst später scheitern.

Tjettmers: "Bei den Menschen wird mit den Jahren die Angst vor dem Versagen und vor demütigenden Situationen immer größer." Ihr Selbstbewusstsein leidet, Mutlosigkeit und die Wut gegen sich selbst wachsen. Wer kaum lesen und schreiben kann, hält sich selbst schnell für dumm.

Um funktionale Analphabeten aus der sozialen Isolation zu holen und das Tabu zu brechen, will das Bundesministerium für Bildung und Forschung jetzt mehr tun. Bereits 2006 hatte es einen Förderschwerpunkt eingerichtet. 30 Millionen Euro gab es seitdem für mehr als 120 Projekte zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener aus.

Der eigentliche Kampf gegen den Analphabetismus wird in Nordrhein-Westfalen aber in den Volkshochschulen (VHS) ausgefochten. Landesweit geben rund 350 Lehrende 90 Prozent der Kurse zur Grundbildung — inklusive der Alphabetisierung. Das Problem der Pädagogen: Fast immer beantragt eine VHS vom Land eine Fördersumme für die Kurse, um den meist geringverdienenden Teilnehmern ein kostenfreies oder sehr günstiges Angebot machen zu können. Hilfe wird nur gewährt, wenn die Kurse mindestens von zehn Personen besucht werden. Pädagogisch sinnvoll ist eine maximale Teilnehmerzahl von sechs bis acht funktionalen Analphabeten, um auf deren Bedürfnisse eingehen zu können, heißt es aus VHS-Kreisen. Die Forderung in Richtung Landesregierung lautet daher, endlich ein eigenes Förderbudget für Alphabetisierungskurse einzurichten.

(jd)
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