Stephen King wird 70 Der unheimliche Freund

Düsseldorf · Stephen King ist für die meisten der König der Horrorliteratur. Dabei handeln seine besten Bücher vom Sommer unserer Kindheit. Wenige andere Autoren wissen so genau, wie Jugendliche fühlen. Eine Würdigung zum 70. Geburtstag.

 Stephen King bei der Buchpräsentation von "Doctor Sleep". (Archivbild von 2013)

Stephen King bei der Buchpräsentation von "Doctor Sleep". (Archivbild von 2013)

Foto: dpa, bsc pil

Am heutigen Donnerstag wird er 70. Das ist endgültig die Gelegenheit, dass man die Menschen bittet, ihn nicht länger bloß als "King of Horror" zu bezeichnen, obwohl er das natürlich auch ist. Sie sollten ihn endlich als den erkennen, der er zuallererst ist, der Dichter des Sommers unserer Kindheit nämlich. Stephen King ist der weltweit führende Baumeister von Schlupflöchern, die zurückführen in die Jugend. Er weiß, dass es sich allein schon um der Kindheit willen zu leben lohnt.

Seine schönste Geschichte erschien 1982, und ihr Beginn führt die Poetik Kings präzise vor Augen: "Wie hatten ein Baumhaus in einer großen Ulme, die auf einem unbehausten Grundstück in Castle Rock stand. Heute befindet sich dort eine Spedition, und die Ulme ist verschwunden. Der Fortschritt." Die Geschichte heißt "Die Leiche", sie wurde unter dem Titel "Stand By Me" von Rob Reiner verfilmt, und es geht darin um eine Gruppe Jungen, die an den Bahngleisen einen Toten finden, die aber auch und in erster Linie die großen Ferien vor dem Erwachsenwerden erleben.

Am Anfang sitzen sie in ihrem Baumhaus und träumen vom Sommer, und noch bevor sie wieder unten sind, wissen sie, dass sie zum letzten Mal zusammen sind. Sie werden im Herbst auf unterschiedliche Schulen gehen, sie werden andere Lebenswege einschlagen. Diese Geschichte handelt von der Zerbrechlichkeit des erwachenden Ichs, das eine Ahnung davon bekommt, wie unfair die Welt ist. "Die Leiche" wird von einem Mann erzählt, er erinnert sich an Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen. Er war einer der Jungen. "Ich hatte später nie wieder solche Freunde wie damals, als ich zwölf war", sagt er. "Jesus, wer hat das schon?"

In seinen besten Büchern schreibt sich Stephen King zurück zum reinsten Ausdruck aller Dinge, dorthin, wo etwas zum ersten Mal geschieht. Deshalb spielen so oft Kinder und Jugendliche die Hauptrollen in seinen Texten. In seinem 1500 Seiten starken Meisterwerk "Es" (1986) ebenso wie in "Joyland" (2013), das mit etwas mehr als 300 Seiten so dünn ist, dass man es als Lesezeichen für die anderen Romane Kings benutzen kann.

Die Orte, an denen sie spielen - immer wieder etwa die fiktive Kleinstadt Castle Rock -, bergen einen flüchtigen Stoff, für den Glück ein Verlegenheitsname ist. In den Büchern Kings könne man "den wundervollsten, den heu- und wiesenduftendsten Sommer" erleben, schrieb einst Frank Schirrmacher. Man taucht ab in diese mächtigen Romane, und dass man sich fallen lässt, dass man sich einfach ergibt, liegt an der Erzählerstimme Kings. Er beginnt ja zumeist schon vor dem ersten Kapitel mit dem Erzählen, er spricht den Leser direkt an. Legendär sind seine Vorworte, die er für spätere Auflagen ergänzt, mit Leserreaktionen anreichert und mit Anekdoten aus seinem Leben. Manchmal berichtet er sogar, was er beim Wiederlesen eigener Werke empfindet, ziemlich lakonisch im Vorwort zu "Schwarz", dem ersten Band aus der Reihe "Der dunkle Turm": "Nur Gott kriegt beim ersten Mal alles richtig hin."

King wiegt den Leser in Sicherheit, er reicht ihm die Hand, und kurz bevor es richtig losgeht, beginnt er zu raunen. In dem Roman "In einer kleinen Stadt" heißt es: "Sie waren schon einmal hier, aber es wird sich vieles verändern. Ich weiß es. Ich spüre es. Ein Unwetter braut sich zusammen." In "Tommyknockers" schreibt er: "Wenn Sie denken, dass ich Spaß mache, dann haben Sie die Abendnachrichten nicht gesehen." Und in "The Stand" sagt er: "Ich habe Ihnen viel zu erzählen, und ich glaube, dort hinter der Ecke können wir uns besser unterhalten. Im Dunkeln." Da steht man also mit ihm im Dunkeln, und allmählich schlängeln sich jene Kräfte, die sonst tückisch im Verborgenen wirken, aus dem Gras hervor und stehen plötzlich so deutlich vor einem wie eine Anakonda, die eine Kuh verschlungen hat.

Auch mal frech und albern, doof und grausam

Stephen King wurde in Portland geboren. Der Vater verließ früh die Familie. Die Mutter zog mit Stephen und dessen Bruder durch das Land. Dann kehrten sie heim nach Maine. Es gab dort, nahe Durham, keine Bibliothek; der junge King musste auf den Bücherei-Bus warten, wenn er lesen wollte.

Eines Tages fragte er die Frau hinter dem Tresen nach einem Buch, das von Gleichaltrigen handelt, aber auf andere Art. Es solle Gleichaltrige nicht als brave Knaben beschreiben, sondern so, wie sie sind. Auch mal frech und albern, doof und grausam. So schreibt es King im Vorort zur englischen Neuauflage von William Goldings "Herr der Fliegen". Und genau diesen Roman empfahl die Bibliotheksangestellte dem Jungen. Vielleicht hat sie ihn damit zum Schriftsteller gemacht, denn so wollte er auch schreiben. Mit acht pauste er Bilder aus Comics ab und kritzelte in die Sprechblasen eigene Texte. Nach dem Studium bekamen er und seine Frau Tabitha früh drei Kinder, und er ernährte die Familie, indem er in der Wäscherei und als Lehrer jobbte. Nebenbei schrieb er: 1965 erschien die erste Story in einem Comic-Magazin, und 1973 kam "Carrie", das war der erste Hit. Bis heute hat Stephen King mehr als 400 Millionen Büchern verkauft.

King wurde mal gefragt, warum er so oft über Kinder schreibe. Als seine Freunde in den 70er Jahren rausgingen, um zur Musik von KC & The Sunshine Band zu tanzen, habe er sich um seine Kinder gekümmert, antwortete er. Er habe sie beobachtet, und dabei hat er wie wenige andere Autoren die Eigenheiten erkannt, das Besondere, die Atmosphäre dieser Jahre des Zu-Bewusstsein-Kommens. Seine Kinderfiguren haben nichts Parfümiertes. Sie sind wahrhaftig. Und in den großen Ferien spielen seine Romane so häufig, weil sich in diesen Wochen zeigt, wie Kinder wirklich sind. Sie erkennen sich selbst, weil sie frei sind von Verpflichtungen, sie sind auf sich selbst zurückgeworfen.

Zusammenhalt, Anstand und Respekt vor dem Anderen

Die besten 30 Seiten, die King je geschrieben hat, findet man im ersten Kapitel von "Es". Der große Bruder liegt erkältet im Bett, und er faltet dem kleinen Bruder ein Papierboot, damit der es im Regen fahren lassen kann. Die Brüder reden, wie Brüder eben miteinander reden, alles ist echt, und der kleine ist so stolz auf das Boot und so froh, dass der große Bruder es ihm gebaut hat, dass er ihm einen Kuss auf die Wange gibt. Das tut er selten, fast nie, deshalb wird sich der große Bruder sein Leben lang an den Kuss erinnern. Es ist das letzte Mal, dass der große Bruder den kleinen sieht, denn der kleine wird im Regen sterben. "Ich weiß nicht, wo das Boot schließlich strandete", schreibt King. "Vielleicht strandete es auch überhaupt nicht, vielleicht erreichte es das Meer wie ein Zauberboot im Märchen und segelt heute noch."

Wenn King über Kinder schreibt, schreibt er über Freundschaft, die über das Böse siegt, er schreibt über das Gute im Menschen, über Zusammenhalt, Anstand und den Respekt vor dem Anderen. Er bringt dabei das schöne Unbedeutende zum Klingen, das man leicht vergisst. Das Grillen-Zirpen der Kindheit sozusagen. Deshalb sind seine Bücher so lang. Im Vorwort zum 1500-Seiten-Roman "The Stand" geht er darauf ein. Er erzählt das Märchen "Hänsel und Gretel" in knappen Zeilen: keine Atmosphäre, nur die Handlung. Und?, fragt er dann. Man schüttelt den Kopf: Nee, das ist nichts. King nickt: "Wie ein Cadillac ohne Chromteile!" Die Chromteile sind das Besondere an den Texten von Stephen King. Deshalb misslingen so viele Verfilmungen seiner Romane: Sie erzählen nach und bilden ab, sie haben Reifen und ein Chassis, aber sie können das Aroma nicht einfangen, die Magie, die zwischen den Zeilen glüht.

King weiß, dass die Zukunft anders wird als erwartet, und diese Zukunft ist stets das Erwachsensein. Eine Einsamkeit wird kommen, gegen die man einen Vorrat an Gemeinsamkeit anlegen muss, mahnt er. "Die Leiche" erzählt er aus der Sicht eines Erwachsenen: Es gibt keinen Weg zurück in die Kindheit. Nur einen vielleicht. Dieser erwachsene Erzähler ist nämlich Schriftsteller, aus dem Kind ist ein Autor geworden, und erzählend gelingt ihm, was anderen verwehrt bleibt.

Derzeit erleben wir eine "Kingaissance". Drei Verfilmungen erscheinen dieses Jahr, ein neuer Roman ist angekündigt. Und Kings zur Trilogie erweiterter Krimi "Mr. Mercedes" aus dem Jahr 2014 gilt als hellseherisch, weil er darin Attentate mit Autos als Waffe vorwegnimmt und Terroranschläge auf Konzerte für junge Zuhörer. King beschreibt auf 2000 Seiten die amerikanischen Verhältnisse. Hass auf Minderheiten. Sozialen Abstieg. Das Gefühl, zu kurz zu kommen. Und weil er in "Dead Zone" bereits 1979 geschildert hat, wie es ist, wenn ein populistischer Clown Präsident wird, wettert er gegen Donald Trump. Der ist davon so genervt, dass er King bei Twitter geblockt hat, damit der Schriftsteller seine Tweets nicht mehr kommentieren kann.

Stephen King ist ein sentimentaler Prophet. Die Zukunft, vor der wir uns in seinen Romanen fürchten, ist längst eingetroffen. Der Rückweg ist versperrt. Wir müssen sehen, wie wir klarkommen. Immerhin: Wir sind nicht alleine hier. "Die Leiche" endet so: "Die stromaufwärts gelegene Brücke ist verschwunden, aber der Fluss ist noch da. Ich auch."

Herzlichen Glückwunsch.

(hols)
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