Kinobesuch mit Ekelfaktor "Feuchtgebiete" – ein Skandal als Film

Düsseldorf · Der junge Regisseur David Wnendt hat Charlotte Roches Bestseller "Feuchtgebiete" verfilmt. Am Wochenende läuft er beim Festival von Locarno. Der Film ist so ekelerregend wie das Buch – und hat doch etwas zu erzählen.

Der junge Regisseur David Wnendt hat Charlotte Roches Bestseller "Feuchtgebiete" verfilmt. Am Wochenende läuft er beim Festival von Locarno. Der Film ist so ekelerregend wie das Buch — und hat doch etwas zu erzählen.

Charlotte Roche ist eine clevere Frau. Sie hatte eine schwierige Jugend, egozentrische Mutter, die Eltern ließen sich scheiden. Doch statt darüber eines dieser selbstmitleidigen Bücher zu schreiben, die bald wieder vergessen sind, hat sie sehr plastisch in Szene gesetzt, wie eine junge Frau tickt, die radikal versucht, den Liebesmangel ihrer Jugend auszugleichen. Sie hat das schonungslos getan, mit provozierender Offenherzigkeit, mit Lust am Ekel, mit gespielter Unschuld — und trotz ihres offensiv naiven Tons auch mit einiger Aggressivität gegen die Schambeladenen, die nicht so frei über Intimrasur, Hämorrhoiden und Masturbation sprechen.

Das war eine skandalöse Mischung. Und weil das Abstoßende ja eine seltsame Anziehung ausübt, hat "Feuchtgebiete" viele Menschen neugierig gemacht. Sie kauften das Buch, in dem in Worte gefasst ist, wovon die meisten Menschen lieber schweigen.

Ekelgrenzen werden ausgereizt

Nun gibt es auch noch die Bilder dazu. Der junge Regisseur David Wnendt hat "Feuchtgebiete" verfilmt und reizt gleich zum Einstieg die Ekelgrenzen maximal aus. Gerade sind noch zwei hübsche Mädchenfüße auf einem Skateboard zu sehen, die Nägel nachlässig bunt lackiert. Sommer, Jugend, süße Freiheit. Da fährt das Skateboard in den dunklen Gang einer öffentlichen Toilette ein. Braunes Wasser steht knöchelhoch. Die Mädchenfüße steigen hinein, auch zur Kloschüssel geht Helen nicht auf Distanz; und wer da noch hinsieht, muss schon abgehärtet sein, um im Kino weiter in den Popcorn-Eimer zu greifen.

Das Werk erfüllt also die Erwartungen: Skandal-Film zum Skandal-Bestseller, Generation Porno soll gut unterhalten werden. Darum läuft der Film zur Premiere bei den Festspielen von Locarno am Wochenende auch nicht open air auf der Piazza Grande, sondern lieber in einem Kino. Zu viele verstörende Szenen könnten Passanten erschrecken: Die Hauptfigur wird nach einer verunglückten Intimrasur im Krankenhaus landen. Sie wird dort einiges durchmachen, was ebenfalls Ekelreflexe auslöst, und die Kamera wird im Krankenzimmer bleiben, wenn man Besucher lieber hinaus bittet.

Fastnochkind will Aufmerksamkeit

Doch ist der Film damit noch nicht ganz beschrieben. Es geht — wie auch bei Charlotte Roche — dann doch nicht nur um Fäkalhumor und das Spiel mit Obszönität. Es geht auch um eine junge Frau, die zu einsam in das Erwachsensein hineingeraten ist. Wenn Helen mit dem Pfleger flirten will, kann sie das nur, indem sie ihn mit ihrer exhibitionistischen Unverfrorenheit schockiert. Da versucht ein Fastnochkind Aufmerksamkeit einzufordern und verwechselt das mit Liebe. Ihre beste Freundin verguckt sich in einen Drogendealer und sehnt sich so sehr nach Geborgenheit, dass sie mit dem apathischen Kiffer ins Abenteuer Familie steuert, noch bevor ihr eigenes Leben richtig begonnen hat. Flirten, werben, warten — das gibt es für die Mädchen nicht. Alle Distanzen sind abgebaut. Die Angst vor Ablehnung ist so groß, dass sie sich lieber selbst nehmen, was sie kriegen können. Oder es zumindest versuchen.

Ihre Schamlosigkeit hat also wenig mit Freiheit, dafür viel mit Minderwertigkeit, mit existenziellem Liebeshunger zu tun. Man spürt in diesem Film, wie traurig es ist, ohne Scham zu sein. Wie verletzlich das macht. Und auf wie vielen Verletzungen es beruht. Und so hat die härteste Szene des Films nichts mit Ekel zu tun, sondern mit den Eltern dieser Generation. Da sitzt Helen noch als Mädchen auf einer hohen Mauer. Die Mutter breitet die Arme aus, lockt das Kind zu springen. Helen gibt sich einen Ruck und landet auf dem Kopfsteinpflaster, die Knie bluten. Trau niemandem, den du liebst, ist die Lehre der Mutter.

Hauptdarstellerin mit eigenwilligem Charme

Der Film kalkuliert also wie das Buch die Erwartungen der Generation Porno, liefert Igitt-Szenen für das Geraune im Kinosaal und lässt Helen in der Badewanne mit Gemüse experimentieren und provokante Sätze über Sex und Hygiene sprechen. Doch Hauptdarstellerin Carla Juri hat einen eigenwilligen Charme, eine trotzige Verletzlichkeit, die anrührt. Die Schweizerin ist eine Entdeckung und verhindert, dass man diesen Film einfach beiseiteschiebt. David Wnendt hat schon mit seinem Debütfilm "Kriegerin" über ein rechtsradikales Mädchen gezeigt, dass er ein anspruchsvoller Regisseur ist, der in Bildern denkt. Das beweist er auch jetzt.

Trotzdem bleibt ein Unbehagen — jenseits der Ekelbilder. Tabus zu brechen, ist immer schmerzhaft. Es löst Abwehr aus. Das war schon vor 100 Jahren so, als die Psychoanalyse sexuelle Tabus angriff und Menschen von ihren Ängsten, Hysterien, psychischen Bedrängtheiten befreite. Charlotte Roche jedoch trifft mit ihren Provokationen auf eine andere Zeit. Schamtabus zu brechen, ist heute nicht mehr aufklärerisch. Es entspricht vielmehr einem Zeitgeist, der nichts mehr geheim, nichts intim lassen will. Darum zielt diese Provokation ins Leere. Oder auf die Quote.

Man kann heute offen über Hämorrhoiden reden und sich auf dreckige Kloränder setzen. Man kann auch Filme darüber drehen. Sie werden viel Geld einspielen. Dies ist das Symptom unserer Zeit.

(RP)
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