Weit weg und doch so nah

Klavier- und Orchestermusik von Claude Debussy und Maurice Ravel sowie eine jazzige Verneigung vor John Lennon.

Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und zwei Komponisten schreiben darüber. Welche Töne fallen ihnen ein? Dumpfe? Wütende? Satirische? Erstickte? Würden sie sich den Zorn von der Seele schreiben oder den Patriotismus? Würden sie die Waffen erklingen lassen oder die Trauer der Witwen?

Schauen wir 100 Jahre zurück und denken uns nach Frankreich, so finden wir zwei große Meister, die mit der Welt und ihrem Krieg haderten. Reynaldo Hahn hatte sich euphorisch an die Front gemeldet. Nun, im Jahr 1915, saß er in der Nähe von Verdun, hörte in der Ferne Kanonendonner und empfand eine Mischung aus Angst, Faszination und "tödlicher Langeweile". In diesen Tagen komponierte er einen Zyklus von zwölf Walzern für zwei Klaviere unter dem Titel "Le ruban dénoué" ("Das entknotete Band").

Was die Musik betrifft, so ist die Diagnose einfach: Der Krieg findet nicht statt. Der Zyklus ist vielmehr eine schwingende und nostalgische Reverenz an eine untergegangene Zeit, ans französische 19. Jahrhundert mit seinen Walzern, Salons, Bällen. Dieser kapriziösen, doch hierzulande kaum je öffentlich gespielten Musik ist das großartige Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen in seiner hinreißenden CD unter dem Titel "1915" auf die Spur gekommen. Die beiden Musiker lassen uns den Dreivierteltakt maximal auskosten und doch mitunter wirbelnd den Boden unter den Füßen verlieren.

Ein wahres Meisterwerk dieser Zeit für zwei Klaviere ist "En blanc et noir" von Claude Debussy, in dem der Komponist (der wegen seiner Krankheit mit dem Krieg nur mittelbar etwas zu tun hatte) ausgerechnet im langsamen Satz einen aktuellen politischen Kommentar von unerwarteter Intensität abgibt. Hier ertönt eine verzerrt-martialische Version des deutschen Chorals "Ein' feste Burg ist unser Gott", der sich gegen die versteckte Marseillaise zu behaupten hat. Siegt eine Melodie? Man weiß es nicht. Durch solch abgründigen Subtext unter der Oberfläche raffinierter Klavierkunst erweist sich "En blanc et noir" als geheimes Hauptwerk - und so fabelhaft spielen es Tal/Groethuysen auch.

Bleiben wir bei der edlen Gattung des Klavierspiels im Duo, so muss man aus logistischen Gründen sagen, dass das vierhändige Spiel an einem Klavier etwa für Bewohner kleinerer Wohnungen deutlich praktikabler ist. Man sitzt ja auch deutlich enger, ja intimer nebeneinander, als wenn man intellektuell und emotional die vielen Meter Entfernung überbrücken muss, die zwei Konzertflügel zwischen einem aufbauen. Bei Tal und Groethuysen merkt man, dass da zwei großartige Musiker einander seit vielen Jahren blind kennen. Dass sollte man von Leon Fleisher und Katherine Jacobson auch denken, doch ihre neue Platte "Four hands" ist enttäuschend. Die "Liebeslieder-Walzer" von Brahms klingen eher muffig als schwungvoll, Schuberts f-moll-Fantasie mangelt es an Farbsinn - und zwischendurch klappern Akkorde so auffällig, dass man sich fast wundert, wieso niemand bei der Sony aufs Bremspedal gestiegen ist.

Wenden wir uns der neuen CD des finnischen Jazzpianisten Iiro Rantala zu. Der darf derzeit als einer der wichtigsten Historiker im Jazz gelten: Rantala ist einer, der die Geschichte seiner Kunst aus der Vogelperspektive überblickt und die Urgemeinde des Jazz im Barock geortet hat. Zum anderen weist Rantala ein unendlich feinsinniges Gespür für Farben und Nuancen auf, er ist ein wahrer Kammermusiker, ein Poet, der auf musikalische Weise irgendwo zwischen Rilke und Hölderlin steht. Nun hat er sich in einem herrlichen John-Lennon-Projekt unter dem Titel "My Working Class Hero" einiger großer Melodien des Beatles-Musikers angenommen und sie auf typische Iiro-Rantala-Weise anverwandelt. Das hat herzensweite Poesie (etwa bei "Imagine"), witzige Inbrunst (bei "All you need is love") und fast mikroskopische Brillanz (bei "Help"). Genial ist Rantala auch, wenn er ostinate Felder aufbaut und mit unerbittlicher Logik zum Schwingen bringt.

Zurück nach Frankreich und zu dem Befund, dass das Musizieren auf Originalinstrumenten auch in unserem Nachbarland längst auf höchstem Niveau stattfindet. Ein prächtiges Ensemble heißt Les Siècles, geleitet wird es von François-Xavier Roth, den wir uns dringend merken sollten, denn er ist der neue Generalmusikdirektor des Kölner Gürzenich-Orchesters. Nachdem er schon bei seinem früheren Ensemble, dem SWR-Orchester Freiburg Baden-Baden, mit Strauss-Aufnahmen verblüfft hat, imponieren er und seine französischen Freunde auf der CD "France-Espagne" mit einer feinen Programmauswahl, die auch wunderbar klingt. Sie ist dem kleinen musikalischen Grenzverkehr zwischen Frankreich und Spanien zur Zeit von Chabrier, Massenet, Ravel und Debussy gewidmet; die Meister sind mit prominenten Werken (Debussy, "Iberia"; Ravel, "Alborada del gracioso"), aber auch mit Raritäten (Massenet, Suite de ballet du "Cid") vertreten.

Dirigenten wie François-Xavier Roth, die sich an Kompositionen großer Meister wagen, haben selbstverständlich Referenzaufnahmen im Ohr, denen sie insgeheim nacheifern oder denen sie nachträglich eine Lektion erteilen wollen. Bei Claude Debussy und Maurice Ravel ist das allerdings schwierig, denn es gibt eine Gesamtaufnahme aller Orchesterwerke, die an Magie, Genauigkeit, elementarer Wucht und Sensibilität als der Gradmesser schlechthin gilt. Es ist die Einspielung von Jean Martinon mit dem Orchestre National de l'ORTF und mit dem Orchestre de Paris. Die stammt zwar aus den 70er Jahren, aber selbst in Zeiten heutiger digitaler Hochrüstung ist etwa der schwebende Beginn von "La mer" unübertroffen. Schöne Freude: Die 8-CD-Box bei der EMI gibt es weiterhin. Jean Martinon ist rheinischen Musikfreunden älteren Jahrgangs noch präsent: Er war - Gruß an seinen Kollegen Roth nach Köln - mal Generalmusikdirektor in Düsseldorf.

(w.g.)
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