Polizei in NRW Notruf-Pannen: Kein Anschluss unter 110

Düsseldorf · Kein zusätzliches Geld, aber trotzdem mehr Polizei auf der Straße: Mit einem geheimen Experiment zur Umverteilung von Innendienst-Arbeiten wollte Innenminister Ralf Jäger den Spagat schaffen. Dabei geriet einiges aus dem Ruder.

Notrufe: So schnell ist die Polizei da
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Foto: Karsten vüllings

NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) hat mit einem bislang unbekannten Experiment in fünf Polizeipräsidien vorübergehend die Notfallversorgung gefährdet. Das geht aus geheimen Berichten des Polizeiapparates und des NRW-Innenministeriums hervor, die unserer Redaktion vorliegen. Obwohl dem Innenminister der Abschlussbericht zu dem problematischen Feldversuch seit November 2014 vorliegt, arbeitet das Innenministerium nach eigenen Angaben bis heute an der Auswertung.

Der "Pilotversuch zentrale Einsatzsachbearbeitung" beginnt im Oktober 2013. In internen Protokollen klagen die Beamten schon früh über Verzögerungen bei Einsätzen, psychischen Druck und dramatische Qualitätsverluste. Ein Zwischenbericht des Polizeipräsidiums Bielefeld vom 30. Januar 2014 weist die "Anzahl der entgangenen Notrufe" in den Anfangsmonaten des Experimentes aus: Im Oktober 2013 wählen 450 Anrufer vergeblich die "110". Im November weitere 358. Und im Dezember laufen 415 Notrufe ins Leere. Im Polizeipräsidium Gelsenkirchen, das ebenfalls an dem Pilotversuch teilnimmt, werden die entgangenen Notrufe während des Experimentes nicht erfasst. Angeblich aus technischen Gründen. Erst im Oktober 2014 beendet Jäger das Experiment.

Sein Ziel: Der Innenminister wollte mehr Polizisten aus dem Innendienst auf die Straße schicken. Deshalb ließ er die so genannte Einsatzsachbearbeitung in fünf Kreispolizeibehörden neu organisieren: In Mönchengladbach, Gelsenkirchen, Dortmund, Steinfurt und Bielefeld. Dabei ging einiges schief.

Einsatzsachbearbeiter halten den Polizisten im Außeneinsatz den Rücken frei. Sie unterstützen ihre Kollegen mit Fahndungs- und Führerscheinabfragen, fordern zusätzliche Notärzte, Funkstreifen, Abschlepp- oder Leichenwagen an und führen das Protokoll. Üblicherweise wird diese Arbeit unter den Beamten der zentralen Leitstelle und den Polizisten in den Außenwachen aufgeteilt. Jägers Idee: Wenn die Arbeit nur noch in der Leitstelle erfolgt, werden auf den Wachen im Land mehr Polizisten für die Straße frei. Allerdings laufen in den Leitstellen auch die Notrufe auf. Weil Personal und Technik dort erst später an die Mehrarbeit angepasst wurden, kam es zu teilweise chaotischen Zuständen.

"Der Übergang in die Pilotphase erfolgte mit erkennbaren Qualitätsverlusten", hält das Polizeipräsidium Bielefeld in seinem Geheimbericht an das übergeordnete Landesamt für Polizeiliche Dienste (LZPD) fest. Von "erheblichen Verzögerungen bei der Einsatzvergabe" ist die Rede, und von "zunehmendem Unmut des Bürgers durch häufige telefonische Weitervermittlung".

Die Gelsenkirchener Polizei beklagt in ihrem ersten Zwischenbericht "Verzögerungen bei der Einsatzvergabe" infolge des Experiments, das "zu einer längeren Bearbeitungs- bzw. Wartezeit für das Einsatzmittel vor Ort" geführt habe. Es gab Streit: "Mit der Einführung des Pilotversuchs kam es anfänglich zu Spannungen zwischen den Mitarbeitern der Leitstelle und den operativen Kräften."

Im LZPD-Abschlussbericht an den Innenminister werden die entgangenen Notrufe über ein halbes Jahr später mit keiner Silbe erwähnt. Die aus Gelsenkirchen und Bielefeld gemeldeten Probleme werden unvollständig zitiert und durch Co-Bewertungen der LZPD relativiert. So heißt es zu Gelsenkirchen: "Entstandene Qualitätsverluste (...) konnten durch das hohe Engagement aller beteiligten Kollegen/Kolleginnen weitestgehend kompensiert, aber nicht in Gänze ausgeräumt werden." Zu Bielefeld schreibt das LZPD, es sei nach Angaben des dortigen Polizeipräsidiums "zu keinen nennenswerten Defiziten in der Einsatzbewältigung gekommen". Zusammenfassend sei "der Pilotversuch insgesamt erfolgreich (...), so dass eine landesweite Einführung der zentralen Einsatzbearbeitung möglich ist."

Dazu ist es bis heute nicht gekommen. Bei dem Pilotversuch handele es sich "um ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren", sagt das Innenministerium mit Blick auf die noch laufende Auswertung. Aber es seien "überwiegend positive Erfahrungen gemacht" worden. Personelle und technische Anpassungen seien "zum Teil bereits vollzogen", den "geschilderten Problemstellungen konnte überwiegend noch während des laufenden Prozesses (...) begegnet werden." Entgangene Notrufe seien auch unabhängig von dem Pilotversuch landesweit zu beklagen. In der Tat musste das Innenministerium schon 2012 gegenüber dem Landtag einräumen, dass in vielen Polizeipräsidien des Landes jährlich Tausende von Notrufen ins Leere laufen. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor.

Die Opposition im Landtag beruhigt das nicht. "Dann hätte der Innenminister die Leitstellen doch erst recht entlasten müssen. Stattdessen hat er die Situation mit dem Experiment noch verschärft", sagt der Polizeiexperte der CDU im Landtag, Gregor Golland. Ebenfalls bedenklich stimmt ihn, dass "die warnenden Stimmen der erfahrenen Beamten vor Ort auf dem langen Weg zum Minister offenbar weichgespült wurden". Golland fordert von Jäger nun eine persönliche Stellungnahme vor dem Innenausschuss des Landtages ein.

(RP)
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