Kleve Bejarano: Jiddische Lieder waren wie ein Wunder

Kleve · "La vita continua", das Leben geht weiter - dieser Satz erhält vor dem Hintergrund einer Holocaust-Biographie eine ganz neue Bedeutung. Die 89-jährige Esther Bejarano gehört zu den letzten Überlebenden des Mädchenorchesters Auschwitz, und "La vita continua" heißt die neueste CD eines sehr ungewöhnlichen Projekts: Gemeinsam mit ihrem Sohn Joram und der Kölner Rap-Gruppe "Microphone Mafia" singt Bejarano jiddische Lieder, Brecht-Vertonungen, italienische Arbeitergesänge und türkisch-kölsche Neukompositionen gegen Antisemitismus und rechtsextreme Gewalt.

 Zwei Klever Realschulen, das Berufskolleg und der Verein Haus Mifgash haben das Konzert auf die Beine gestellt.

Zwei Klever Realschulen, das Berufskolleg und der Verein Haus Mifgash haben das Konzert auf die Beine gestellt.

Foto: Klaus-Dieter Stade

Diese Formation war am Donnerstag in der Stadthalle zu erleben - ein wunderbarer, eindrucksvoller Konzertabend, den wohl kein Besucher so schnell vergessen wird. Vier Veranstalter haben das Konzert gemeinsam auf die Beine gestellt: zwei Klever Realschulen, das Berufskolleg und der Verein Haus Mifgash. Der Saal war rappelvoll, mit überwiegend jungem Publikum, was auch zu der besonderen Atmosphäre des Konzertes beitrug. Vor allem aber überzeugte die stimmige Dramaturgie, die gelungene Balance aus politischen Botschaften, bewegenden Texten und packender Musik.

In erster Linie lebte der Abend von der Persönlichkeit Esther Bejaranos. Die kleine, schmächtige Frau, die doch eine enorme Kraft ausstrahlte, begann mit einer Lesung ihrer Lebensgeschichte: Wie sie mit 18 Jahren ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde, in dessen Mädchenorchester eine Akkordeonistin gesucht wurde. Wie sie sich meldete, die zwar Klavier und Blockflöte gelernt, aber nie zuvor ein Akkordeon in der Hand gehabt hatte, und wie sie beim Vorspielen trotzdem die richtigen Töne traf - "es war wie ein Wunder". Wie sie als "Viertel-Arierin" ins KZ Ravensbrück versetzt wurde, von dort fliehen konnte und schließlich mit einigen Freundinnen auf amerikanische Soldaten stieß, die ihnen die Nachricht vom Ende des Krieges überbrachten. Hörte man anfangs noch leises Getuschel und Gekicher im Saal, so war es schon nach wenigen Minuten totenstill.

Szenenwechsel: Zwei Männer betreten die Bühne und nehmen die alte Frau in ihre Mitte, Joram Bejarano an der Bassgitarre und der Rapper Kutlu Yurtseven. Beats in Clublautstärke, im Publikum werden die Smartphones gezückt. Großartig die Mischung der Sprachen, Stile, Welten - Yurtsevens sprachartistische Raptexte auf Türkisch und Deutsch, Bejaranos kraftvoll tiefe Stimme, mit der sie die alten jiddischen Lieder singt; kerzengerade steht sie in der Mitte der Bühne oder wiegt sich im Rhythmus der Musik. Obwohl viele Texte von Gewalt und Unterdrückung erzählen, ist es ein fröhlicher, lebensbejahender Abend mit ergreifenden wie witzigen Momenten. Etwa als die Musiker ein Lied mit kölschem Refrain anstimmen ("Für dieses Lied hat Esther extra Kölsch gelernt"); auch das Publikum muss zeitweise mitsingen und -klatschen. Am Ende streckt Bejarano die Arme aus und nimmt ihre Mitstreiter, beide viel größer und kräftiger als sie, zum Verbeugen an die Hände. Spontan erhebt sich der ganze Saal: tosender Applaus.

(RP)
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