Kleve Kinder entscheiden, was sie lernen

Kleve · Seit gut zwei Monaten lernen 28 Fünftklässler des Konrad-Adenauer-Gymnasiums in Kellen nach der Pädagogik von Maria Montessori (1870-1952). Ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts ist die Freiarbeit.

 Montessori-Lehrer Wolfgang Tyssen hilft den Schülern während der Freiarbeit nur dann, wenn sie ihn um Hilfe bitten. Denn die Kinder sollen selbst bestimmen, was sie wie lernen wollen und in welchem Tempo.

Montessori-Lehrer Wolfgang Tyssen hilft den Schülern während der Freiarbeit nur dann, wenn sie ihn um Hilfe bitten. Denn die Kinder sollen selbst bestimmen, was sie wie lernen wollen und in welchem Tempo.

Foto: Gottfried Evers

Als Lehrer Wolfgang Tyssen den Klassenraum im zweiten Stock des Konrad-Adenauer-Gymnasiums (K-A-G) zur siebten Stunde betritt, sind seine Fünftklässler schon konzentriert bei der Arbeit. Auf einem Tisch stapeln sich Duden und Tierbücher, ein anderer ist übersät mit Buntstiften, Lineal und Anspitzer. In einer Ecke des Nebenraumes lauscht ein Junge mit Kopfhörern den Aufgaben einer Englisch-Lern-CD. Andere Kinder sitzen in kleinen Gruppen zusammen und überlegen noch, wie sie weiterarbeiten wollen, während wieder andere bereits so vertieft in ihre Aufgaben sind, dass sie gar nicht bemerken, dass ihr Lehrer den Raum betreten hat.

Genau so solle es sein, sagt Wolfgang Tyssen. Denn es ist Freiarbeitszeit für die 28 Kinder der Montessori-Klasse des K-A-Gs. Anders als in klassischen Unterrichtsstunden sind die Schüler drei Mal die Woche für zwei Stunden selbstverantwortlich für ihr Lernen. Sie entscheiden, was sie lernen, wie sie es lernen und wie lange sie sich mit einem Thema beschäftigen. Das ist ein zentraler Punkt der Pädagogik, die ab 1907 von Maria Montessori entwickelt und von anderen Pädagogen weitergeführt wurde.

Erstmals gibt es an dem Gymnasium in Kellen eine Klasse, die nach diesem Konzept unterrichtet wird. Ein Projekt, das Tyssen mitbrachte. Der 56-Jährige ist seit 18 Jahren Dozent für Montessori-Pädagogik und unterrichtete 24 Jahre am Bischöflichen Maria-Montessori-Gymnasium in Krefeld. Vor gut zwei Jahren wechselte der Vater von vier Kindern an das Gymnasium in seiner Heimat Kellen. Als die Anfrage von der Montessori-Grundschule in Griethausen kam, ob das Gymnasium die Pädagogik nicht in der fünften Klasse und dann sechsten fortsetzen wolle, überzeugte Tyssen seine Kollegen schnell von der Idee.

Ein Klassenraum mit Nebenraum wurde eingerichtet, der den Ansprüchen der Montessori-Pädagogik entspricht. Die Schüler können sich während der Freiarbeit frei bewegen und finden auch überall Anregungen, sich mit neuen Themen zu beschäftigen. An den Wänden hängen Landkarten. Auch das Weltall ist zu sehen. In den Regalen stehen nicht nur Bücher, sondern auch Holzmaterialien oder laminierte Übungsblätter — die Kinder sollen die Materialien in die Hände nehmen und tatsächlich begreifen können. "Die vorbereitete Umgebung ist wichtige, um dem Ganzen einen Rahmen zu geben ", erklärt Tyssen.

Jedes Material hat seinen festen Platz. Außerdem gibt es eine Reihe von Regeln: leise sprechen, Mitschülern helfen, wenn sie um Rat fragen, die angefangene Arbeit zu Ende machen. "Montessori bedeute nicht, dass die Kinder machen, was sie wollen, sondern sie wollen, was sie machen", sagt Tyssen, "leistungsstärkere Kinder können sich richtig in ein Thema einarbeiten und dann auch andere dafür Begeistern. Kinder mit Schwächen können die aufarbeiten."

Und so sucht sich jedes Kind das heraus, was seinen Wissensdurst am besten stillt. Während die 10-jährige Alexa Bergsch in einem Buch mit Tier-Fotos blättert und Informationen über Schildkröten sucht, malt ihr Klassenkamerad Leon Kadrim eine Kobra. Später soll noch eine Geschichte entstehen, verrät er und fragt seinen Lehrer, ob die Schlange zu erkennen sei. "Erinner dich mal, wie wir das mit den Zeichnungen im Bio-Unterricht gemacht haben", gibt Tyssen einen kleinen Denkanstoß. In der Montessori-Pädagogik ist der Lehrer Beobachter — nicht Macher. Er greift nur ein, wenn ein Kind um Hilfe bittet oder er merkt, dass ein Schüler überfordert ist. "Hilf mir, es selbst zu tun" — das ist der Kern der Idee von Maria Montessori.

Die meisten Montessori-Materialien bieten Möglichkeiten der Selbstkontrolle, für die Rechtschreibung nutzen die Kinder den Duden. Ein Ziel sei es, dass die Kinder ihr Wissen untereinander weitergeben und so ein demokratisches Miteinander lernen. Das wirke sich auch zu Hause aus, findet Mutter Froukje Bosch: "Meine Tochter Jasmijn hat schon in der ersten Woche zu Hause mit ihrem Klassenkameraden in Büchern geforscht", sagt die Kranenburgerin. Es sei toll zu sehen, wie motiviert und selbstständig ihr Kind lerne. "Die Schüler sollen sich als Baumeister ihrer selbst erkennen und lernen, dass sie sich selbst in sozialer Gemeinschaft gestalten müssen" — das versucht Wolfgang Tyssen auch seinen Kollegen verständlich zu machen. Denn inzwischen haben sich 23 bereiterklärt, sich von ihm zum Montessori-Lehrer fortbilden zu lassen. In 22 Sitzungen lernen sie, wie die Freiarbeit gestaltet werden muss und wie sie ihre Lehrerpersönlichkeit umstellen müssen. "Intuitiv habe ich viele Bruchstücke aus der Freiarbeit schon in den Unterricht eingebracht, aber neu ist, dass ich nicht einfach eingreifen darf", sagt Claudia Litjens. Spannend werde es, das bei einer großen Lerngruppe umzusetzen.

(RP)
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