SPD-Chef im Interview Sigmar Gabriel für Tempo 120 auf Autobahnen

Düsseldorf · Dem SPD-Vorsitzenden gehen die Steuerpläne der Grünen zu weit. Sie bergen die Gefahr, dass sie die Mittelschichten treffen. Ein rot-grünes Bündnis sei "keine Liebesheirat". Außerdem findet er, dass NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans auch das Zeug zum Bundesfinanzminister hat.

Sigmar Gabriel besucht Duisburg-Hochfeld
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Die Mehrheit der Deutschen glaubt, dass die rot-grünen Steuerpläne im Wahlkampf schaden. Haben Sie sich verschätzt?

Gabriel Die gleiche Umfrage sagt auch, dass die Mehrheit diese Steuerpläne richtig findet. Wir sind einfach ehrlich. Man kann nicht Schulden senken, mehr Geld für Bildung und Infrastruktur ausgeben — und gleichzeitig auch noch versprechen, die Steuern senken zu wollen, wie es CDU und FDP vorgaukeln.

Das "Handelsblatt" titelte jüngst: "Die Grünen - der neue Feind der Wirtschaft". Mit einer wirtschaftsfeindlichen Partei wollen Sie ab Herbst eine Regierung bilden?

Gabriel Ach, Gott. Handelsblatt-Chef Gabor Steingart hat einst in seinem Buch "Deutschland - Abstieg eines Superstars" Forderungen formuliert, gegen die selbst die Grünen-Vorschläge auf Samtpfoten daherkommen. Der Hauptfeind der Wirtschaft säße demnach also beim Handelsblatt.

Die Grünen wollen den Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf 49 Prozent anheben. Und das ab 80.000 Euro Haushaltseinkommen ....

Gabriel Bei Helmut Kohl und seiner CDU/FDP-Regierung lag der Spitzensteuersatz mal bei 53 Prozent. Da sind selbst die Grünen weit entfernt und bei uns fordern so hohe Steuersätze nicht mal mehr die Jungsozialisten. Die Vorschläge der Grünen — vor allem die Kombination aus Steuertarif und Abschaffung des Ehegattensplittings — bergen allerdings die Gefahr, dass damit auch die Mittelschichten getroffen werden könnten. Da wird die SPD aufpassen, denn das wollen wir nicht.

Die SPD will aber auch den Spitzensteuersatz anheben …

Gabriel Aber erst für Haushaltseinkommen ab 200 000 Euro für Ehepaare. Wir wollen die wirklich sehr hohen Einkommen und Vermögen stärker an der Finanzierung des Schuldenabbaus, der Bildungsausgaben und der Investitionen in die Infrastruktur beteiligen und nicht die obere Mittelschicht. Uns geht es um einen neuen Lastenausgleich in Deutschland. Zudem wollen wir das Ehegatten-Splitting nur behutsam modernisieren. Für bestehende Ehen soll alles bleiben, wie es ist. Das gebietet der Vertrauensschutz.

Für neue Ehen will die SPD den Splitting-Vorteil kappen. Zwei Systeme parallel : Wie soll das praktisch und verfassungsrechtlich gehen?

Gabriel Veränderungen im Steuerrecht und Alt- und Neufälle hat es schon immer gegeben. Das heutige System fördert vor allem die hohen und sehr hohen Einkommensgruppen. So wie es heute ist, kann es nicht bleiben.

Die Grünen fordern in ihrem Wahlprogramm auch Tempo 120 auf der Autobahn und Tempo 80 auf der Landstraße. Was halten Sie davon?

Gabriel Der Rest der Welt macht es ja längst so. Tempo 120 auf der Autobahn halte ich für sinnvoll, weil alle Unfallstatistiken zeigen, dass damit die Zahl der schweren Unfälle und der Todesfälle sinkt. Die Grünen allerdings wollen diese Geschwindigkeitsbegrenzungen, um den Klimaschutz voran zu bringen. Ich glaube, dass die Wirkung dafür sehr, sehr begrenzt ist. Da sind modernere Motoren und Elektromobilität viel wirksamer. Die Frage, ob Tempo 80 auf der Landstraße sinnvoll ist, überlasse ich gerne den Ländern. Ich bin kein Anhänger der Theorie, dass in der Politik alles Gute von oben kommt. Länder und Kommunen wissen besser, auf welchen ihrer Straßen wie schnell gefahren werden soll.

Das hört sich nicht nach Begeisterung für das rot-grüne Projekt an.

Gabriel Rot-Grün ist keine Liebesheirat. Aber SPD und Grüne haben einfach einen großen Schatz an Gemeinsamkeiten. Wir wollen die Zukunft zurück in die Politik holen, denn CDU/CSU und FDP haben ihre Politik betrieben, als gäbe es kein Morgen. Trotz großer Steuermehreinnahmen 100 Milliarden Euro neue Schulden in den letzten vier Jahren. Und dabei sind die Kosten die Eurorettung noch gar nicht dabei. Die Finanzmärkte treiben die Politik vor sich her. Und Leistung und Arbeit lohnt sich für viele Menschen nicht mehr. Ein Beispiel dafür ist die miserable Bezahlung in vielen typischen Frauenberufen wie z.B. der Altenpflege.

Was haben Sie vor?

Gabriel Durchsetzen, dass Leih- und Zeitarbeit wieder auf das zurück geführt wird, wozu sie da ist: Flexibilität für Unternehmen zu schaffen aber nicht feste Jobs zu vernichten und durch schlecht bezahlte Leiharbeit zu ersetzen. Und was Frauen angeht: gleicher Lohn nicht nur für gleiche Arbeit, sondern auch für gleichwertige Arbeit: Derzeit werden Menschen, die eine Tonne Stahl bewegen, viel besser bezahlt als Menschen, die sechs Kilo Mensch in einer Kita bewegen oder sechzig Kilo in einem Pflegeheim. In den Kitas und in der Pflege wird ungeheuer viel geleistet, aber wenig bezahlt. Es wird Zeit, dass wir das in allen sozialen Berufen endlich ändern und besser bezahlen.

In Deutschland gilt Tarifautonomie. Löhne sind Sache der Tarifparteien ...

Gabriel Ja, aber wenn der Staat die Tarifpartner daran hindert, dass Tariflöhne auch gezahlt werden können, nützt das nichts. Sehen Sie sich nur die Krankenpflege an. Da gibt es einen Tarifabschluss, aber die Bundesregierung verhindert, dass die Pflegekassen den Krankenhäusern diese höheren Löhne auch refinanzieren können. Im Ergebnis flüchten die Krankenhäuser aus dem Tarif, privatisieren und bauen Pflegepersonal ab. Gerade in den ländlichen Regionen führt das auch zur Schließung von Krankenhäusern. Und es beginnt in der Ausbildung: Während es in einer technische oder kaufmännischen Ausbildung bereits eine Ausbildungsvergütung gibt, muss in der Altenpflege vielerorts noch Schulgeld gezahlt werden.

Laut jüngster Umfrage zur Bundestagwahl käme die SPD auf 26 Prozent, die Grünen auf 15 Prozent. Wo soll die Mehrheit herkommen - von der Linkspartei?

Gabriel Bis zur Wahl im Herbst ist ja noch Zeit, die werden wir nutzen. Aber eins ist klar: Mit der Linkspartei werden wir nicht koalieren, denn sie ist eine zutiefst gespaltene Partei. Wir wüssten ja nie, ob etwas, was wir morgens mit dem einen Teil dieser Partei vereinbart haben, abends vom anderen Teil noch mitgetragen wird. Zudem verliert die Linkspartei gerade an Bedeutung, wir wären dumm, sie wieder aufzuwerten.

Werden Sie sich von der Linkspartei tolerieren lassen wie einst die Minderheitsregierung von Hannelore Kraft in NRW?

Gabriel Ein Land kann so etwas machen, der Bund nicht. Stellen Sie sich nur vor, mitten in der Eurokrise hätten wir keine klaren Verhältnisse in Deutschland. Nur weil sie auf Stimmenfang ist, fordert die Linkspartei gerade den Austritt Deutschlands aus dem Euro. Ganz Europa käme ins Wanken. Europa braucht ein stabiles Deutschland. Das wäre mit einer Minderheitenregierung nicht möglich.

Im Vergleich Merkel/Steinbrück ist Ihr Kandidat weit abgeschlagen. War es falsch, auf Steinbrück zu setzen?

Gabriel Nein, Steinbrück ist der richtige Kanzlerkandidat. Aber Frau Merkel hat natürlich den Amtsbonus. Das heißt am Ende aber nichts. In Niedersachsen hat die CDU die Landtagswahl verloren, obwohl ihr Ministerpräsident noch höhere Zustimmungswerte hatte als Frau Merkel.

Gepunktet hat die SPD zuletzt im Streit über das Steuerabkommen mit der Schweiz. Ist NRW-Finanzminister der wahre Held Ihrer Partei?

Gabriel Ich bin ein großer Fan von Norbert Walter-Borjans. Er hat mit seiner klaren Haltung das ungerechte Steuerabkommen zu Fall gebracht, mit der Wolfgang Schäuble Kriminelle verschonen wollte. Wer den Staat um Millionen betrügt, darf nicht straffrei ausgehen.

Kann Walter-Borjans auch Bundesfinanzminister?

Gabriel (lacht) Sicher kann Walter-Borjans auch Bundesfinanzminister werden. Aber ich will keinen Ärger mit Hannelore Kraft. Wir spannen ihr keinen Minister aus.

Das Interview führten Antje Höning und Carsten Fiedler.

(jco)
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